Der Bürgerkrieg in Syrien eskaliert. Die schlimmsten Bombardements seit Jahren lassen die Zahl der Opfer nahezu stündlich wachsen. Eine wichtige Rolle in diesem Konflikt spielen neben dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad derzeit auch die Türkei unter Führung von Recep Tayyip Erdogan - und Wladimir Putins Russland. Russlands Strategie ist dabei höchst widersprüchlich.
Am Donnerstag sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Regierungserklärung von einem "Massaker, das es zu verurteilen gilt". Außenminister
Anlass der Betriebsamkeit: Die Angriffe der syrischen Armee auf das Rebellengebiet Ost-Ghuta. Mehr als 400 Zivilisten wurden nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte seit Sonntag getötet, über 2.100 Menschen verletzt.
"Es ist gut, dass Frau
Ihr vordringlicher Rat an die deutsche Politik: "Es wäre sehr wichtig zu diskutieren, was eigentlich Russland in Syrien erreichen will." Nur eine genaue Analyse von
Russland hat maßgeblich zur Eskalation beigetragen
Das russische Vorgehen in Syrien ist allerdings nicht einfach zu interpretieren. Putin hat sein Engagement allmählich gesteigert: Von anfänglicher Unterstützung Syriens im Weltsicherheitsrat über Waffenlieferungen bis hin zum Einsatz von Luftwaffe und Bodentruppen hat Russland maßgeblich zur Eskalation des Bürgerkrieges beigetragen, der schnell zu einem Krieg um Macht und Einfluss in der Region wurde.
Offenkundig wird das derzeit nicht so sehr im Bombenhagel von Ost-Ghuta, sondern vor allem im Norden Syriens – an der Grenze zur Türkei. Seit der türkische Präsident Erdogan seine Truppen ins Nachbarland einmarschieren ließ, sind die Fronten noch unübersichtlicher geworden. Denn der türkische Einmarsch war offenbar mit Russland abgesprochen – also mit dem Land, das eigentlich den syrischen Machthaber unterstützt.
Bente Scheller sieht die russische Politik als durchaus widersprüchlich. Man müsse allerdings, sagt sie, zwischen den Nah- und Fernzielen unterscheiden. Putins Nahziel sei es, Assad zu stützen.
Vom russischen Regierungschef ist bekannt, dass er revolutionäre Bewegungen jeder Art ablehnt. Putin stand schon zuzeiten des sogenannten Arabischen Frühlings auf der Seite der etablierten Herrscher – so wie er sich jetzt vor
Putin unterstütze die Türkei zudem nicht direkt – Russland habe "lediglich grünes Licht für diesen Angriff gegeben" und versuche nun, die Türkei in eine gemeinsame Regionalpolitik einzubinden.
Ein doppeltes Spiel also mit dem Ziel, russische Interessen zu sichern: "Vielleicht ist das eine Testphase, in der Putin herausfinden möchte, ob man auf einen gemeinsamen Nenner kommen kann", mutmaßt die Expertin.
Es geht um Putins strategische Ziele
Weil Baschar al-Assad laut Scheller in der Vergangenheit immer wieder signalisiert hat, "dass er sich nicht von anderen Mächten manipulieren lassen will", lasse sich Putins Ja zum Türkei-Einmarsch auch als Warnung an den syrischen Machthaber deuten – als "indirekte Machtdemonstration gegen Assad".
Der muss nun deutlich erleben, dass es Putin nicht um die Erhaltung von Assads Macht geht, sondern einzig um die eigenen strategischen Erwägungen.
Weniger konkret, so Scheller, sei die Frage nach Putins Fernziel zu beantworten. Putin wolle wohl "einen Friedensschluss nach russischen Vorgaben" erreichen und damit Russland zu einer festen Größe im Nahen Osten machen. Ein Friede in Syrien "hätte Übereinkünfte mit den anderen, starken regionalen Kräften zur Voraussetzung" und würde so die Rolle Russlands in der Region auf Dauer festigen.
Ein entsprechender Vertrag müsste den Iran, vielleicht auch Israel einbeziehen und die Machtverteilung in der Region neu festzurren – ein Prozess, den Putin aus einer starken Position heraus mitbestimmen möchte.
Dass die Truppen von Assad und Erdogan demnächst direkt aneinander geraten könnten, hält Scheller für unwahrscheinlich: Obwohl sich auch im Norden Syriens die Kämpfe ausweiten, seien "bisher keine regulären Truppen involviert", sondern lediglich sogenannte "Bürgerwehren".
Die Unterstützung der Kurden durch die syrische Regierung bleibe auf diese Weise "in einer diplomatischen Grauzone" und "im Wesentlichen rein verbal".
Kommt Assad der Türkei-Eingriff sogar gelegen?
Assad habe wegen seiner "ausgedünnten Truppen" wenig Interesse an einem zusätzlichen Konfliktherd und sehe den Eingriff der Türkei möglicherweise sogar pragmatisch: "Es kommt ihm gar nicht so unwillkommen, wenn andere Akteure die Kurden zurückstutzen", meint die Expertin. Deren Autonomiebestrebungen missfallen Assad ebenso sehr wie seinem Widersacher Erdogan.
Aus einem anderen Grund könnten die Kämpfe um Afrin an der türkischen Grenze sogar von Vorteil für den Diktator sein: Assad hofft laut Scheller, dass er "im Windschatten des Konfliktes mit den Kurden" eine der letzten Bastionen des syrischen Widerstandes niederschlagen könnte.
Deshalb habe er jetzt die Kämpfe in Ost-Ghuta ausgeweitet. Dort sind die syrischen Rebellen schon lange von Regierungseinheiten eingekesselt und werden außerdem von islamistischen Milizen bedrängt. Mit einem Sieg in Ost-Ghuta würde Assad wieder den größten Teil des Ballungsraumes um die Hauptstadt Damaskus kontrollieren.
Die "Grundkonstellation dieses Krieges" hat sich in den Augen von Bente Scheller durch das Eingreifen der Türkei nicht verändert: Syrien führe nach wie vor "Krieg gegen die eigene Bevölkerung" und werde dabei "von internationalen und regionalen Kräften gestützt".
Derzeit zahlen für diese Politik vor allem die Menschen in Ost-Ghuta den Preis. Ihnen könnte, da ist sich Scheller sicher, einzig ein umfassender Waffenstillstand helfen – eine Einigung mit Russland wäre dafür die Voraussetzung.
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