Ende März finden in der Türkei Kommunalwahlen statt. Auch wenn es vordergründig um Stadträte, Provinzräte und Bürgermeister geht, so hat die Wahl doch eine viel größere Strahlkraft: Sie ist Stimmungstest für Erdogan, der sich das Ziel gesetzt hat, das Rathaus in Istanbul zurückzuerobern. Wie die Chancen für ihn stehen und warum die Wahl auch für Deutschland und Europa Bedeutung hat.
Es ist weniger als ein Jahr her, dass Präsident Erdogan Ende Mai vergangenen Jahres die Stichwahlen um die Präsidentschaft in der Türkei für sich entschied. Weitere fünf Jahre Erdogan hieß es damals. Die Opposition stand unter Schock – hatten doch so viele auf einen Machtwechsel gehofft und gesetzt.
Schon in der Nacht seines Sieges hatte Erdogan sein nächstes Ziel ausgegeben: Istanbul zurückerobern. Denn die türkische Metropole war 2019 an seinen Herausforderer Ekrem Imamoglu von der CHP gefallen. Ebenso musste die AKP die Rathäuser in Städten wie Ankara und Antalya abgeben.
Chance für Erdogan
Die Chance, sie nun wieder für sich zu gewinnen, bietet sich Erdogan jetzt: Ende März (31.) finden in der Türkei Kommunalwahlen statt, der Wahlkampf dafür ist längst angelaufen. Landesweit werden Bürgermeister, Stadt- und Provinzräte gewählt.
Die Bosporusmetropole Istanbul hat für Präsident Erdogan eine ganz besondere Bedeutung. Nicht nur, weil Istanbul ein Drittel des türkischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet, sondern vor allem, weil hier 1994 seine politische Karriere begann. Damals wurde Erdogan selbst zum Oberbürgermeister gewählt.
Eine besondere Schmach war es für ihn deshalb, als er 2019 den Kommunalwahlsieg von Imamoglu in Istanbul anfechten ließ. Nach einer Wiederholung der Abstimmung vergrößerte sich dessen Vorsprung von 13.000 Stimmen auf 775.000 Stimmen.
Erdogan setzt auf Technokraten
Derjenige, der Istanbul als Bürgermeisterkandidat für Erdogan nun wieder gewinnen soll, ist Murat Kurum. Der 47-Jährige war in der Vergangenheit Minister für Umwelt, Stadtplanung und Klimawandel. Er hat sich durch seinen Einsatz nach dem Erdbeben im Februar 2023 einen Namen gemacht, als er den Bau von Notunterkünften leitete. Über große Bekanntheit verfügt der Bauingenieur allerdings nicht.
Eher auf Technokraten zu setzen, folgt dem Kalkül Erdogans, niemanden zu nominieren, der ihn überstrahlen könnte. So ist bei den Kommunalwahlen klar: Auch wenn ein anderer Name auf dem Zettel steht – der wahre Kandidat heißt Erdogan. Dem amtierenden Bürgermeister von Istanbul warf er vor, die Stadt an "den Rand des Zusammenbruchs" geführt zu haben.
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Geschwächte Opposition
"Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei", heißt es oftmals. Auch Experte Rasim Marz meint, dass Erdogan weiß, was auf dem Spiel steht: "Für Präsident Erdogan bietet sich jetzt eine Chance. Die Opposition ist zerrüttet und hat sich nicht von der verlorenen Präsidentschafts- und Parlamentswahl von 2023 erholen können", sagt Marz unserer Redaktion. Sie hätten sich weiter auseinanderdividiert und die Strategie von einem "Anti-Erdogan-Bündnis" aufgegeben.
"Gemäß der letzten Umfragen gibt es in Istanbul ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem amtierenden Oberbürgermeister Imamoglu und seinem Herausforderer Kurum", beobachtet Marz. Auch, wenn Erdogan von der geschwächten Opposition profitiere, belastet ihn aus Sicht von Marz etwas anderes: die schlechte Wirtschaftslage der Türkei mit einer Inflation von aktuell 64,8 Prozent.
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Kommunalwahl als Stimmungstest
"Jeglicher Versuch von Präsident Erdogans Finanzminister Mehmet Simsek, daran etwas zu ändern, hat nicht zu einer Besserung der Lage beigetragen, sodass auch die Regierungspartei AKP bei ihrer Stammwählerschaft unter erhöhtem Druck steht", erklärt Marz.
Für Präsident Erdogan würden die Kommunalwahlen insofern zum Stimmungstest werden. "Zur Erschütterung seiner Macht wird er jedoch nicht führen", meint Marz. Aus der Erfahrung heraus, wie Erdogan mit der letzten Niederlage gegen die CHP und dem Verlust Istanbuls umgegangen sei, könne man ableiten, dass er an seinem Kurs der Ein-Mann-Herrschaft grundsätzlich weiter festhalten werde.
Marz sagt: "Anhand des Stimmungsbildes, das durch die Kommunalwahlen zutage tritt, wird er seinen Kurs aber sicherlich an manchen Stellen neu justieren oder ausrichten, um letztendlich auch von der Wirtschaftslage der Türkei ablenken zu können."
Für Imamoglu geht es um viel
Während des Wahlkampfs versucht Erdogan das bereits mit innen- und sicherheitspoltischen Themen. "Damit will er auch enttäuschte AKP-Wähler, die dazu tendieren, in das Oppositionslager zu wechseln, zurückgewinnen", sagt Marz.
Sollte Erdogans Kandidat die Wahl gewinnen und Imamoglu damit den Platz im Rathaus streitig machen, dürfte das die Opposition hart treffen – vielleicht sogar desillusionieren. Chancen rechnen Beobachter Imamoglu nur aus, wenn die scharfe Polarisierung in der Türkei für einen natürlichen Bündniseffekt an der Basis sorgt. Bei einem Wahlsieg dürfte Imamoglu auf eine Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2028 hoffen.
Kraft der türkischen Opposition
"Die Kommunalwahl ist von einer großen Symbolkraft gekennzeichnet – insbesondere in Bezug auf die Frage, inwieweit sich die Zivilgesellschaft und die demokratische Mitte nach der Niederlage von 2023 aufstellen werden und ob sie bei den Kommunalwahlen in den jeweiligen Provinzen noch eine großflächige Rückendeckung in der Bevölkerung gewinnen kann", fasst Marz zusammen.
Dennoch würden die Kommunalwahlen nicht mit den gleichen Spannungen versehen sein wie bei der Präsidentschafts- und Parlamentswahl von 2023. "Denn die Regierungspartei steht selbst nicht direkt zur Wahl beziehungsweise die Macht von Präsident Erdogan steht nicht direkt zur Wahl", sagt der Experte. Aus diesem Grund werde die Wahl für Europa und Deutschland ein Test sein, wie viel Kraft die türkische Opposition noch aufbringen könne für eine Post-Erdogan-Ära.
Über den Gesprächspartner
- Rasim Marz ist ein deutsch-türkischer Historiker und Publizist für die Geschichte des Osmanischen Reiches und der modernen Türkei. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die europäische und osmanische Diplomatie des 19. Jahrhunderts sowie die Subversion des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert.
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