Interner Zoff, schlechte Umfragewerte – die Grünen gehen mit einer denkbar schlechte Ausgangslage in das Wahljahr. Der Sinkflug könnte damit zu tun haben, dass die Partei nicht mehr dem Zeitgeist entspricht.
"Die Welt brennt", sagte Schleswig-Holsteins Grüner Umweltminister
Der Klimawandel, die Gefährdung der Demokratie, die Aufrüstung - tatsächlich sind das Themen, die zur "DNA" (Habeck) von Bündnis90/Die Grünen gehören. Nur scheinen die Grünen nicht mehr gefragt zu sein.
Was ist nur mit den Grünen passiert?
Nur noch sieben bis acht Prozent der Wähler würden laut aktuellen Umfragen bei der Bundestagswahl im September die Partei wählen. Das liegt im Bereich der 8,4 Prozent bei der Wahl 2013, die in der Partei herbe Enttäuschung hinterließ.
Kein Wunder, notierten Wahlforscher die Grünen doch Ende 2010 plötzlich bei 24 Prozent. Rein rechnerisch wäre eine Koalition mit der SPD möglich gewesen - unter Führung eines grünen Kanzlers. "Taugen die Grünen als Volkspartei?", fragte der "Spiegel" bereits.
Was ist seitdem geschehen? Oft werden in den Analysen unpopuläre Forderungen aus den Reihen der Grünen für den Sturzflug verantwortlich gemacht: Die Steuerpläne vor der Bundestagswahl 2013, die Diskussionen um den Veggie-Day, zuletzt die Kritik der Bundesvorsitzenden Simone Peter an der Kölner Polizei während der Silvester-Nacht 2016.
Einen etwas anderen Erklärungsansatz formuliert der Politologe Ingolfur Blühdorn von der Wirtschaftsuniversität Wien im Gespräch mit diesem Portal: "Die Grünen haben sich immer als politische Avantgarde verstanden. Aber die Rechtspopulisten haben das Progressive umgedeutet - heute bedeutet es: Exklusivität, Grenzen ziehen."
Deswegen könne die Partei die Themen "nicht mehr progressiv ausbuchstabieren". Anders formuliert: Wo die Grünen sind, ist nicht mehr vorne. Sie gehören eher zum Mainstream - und der brauche die Grünen nicht, meint Blühdorn. "Der kommt auch mit Schulz oder Merkel zurecht."
Erfolge in den Ländern
"Andere Parteien werfen sich ein grünes Mäntelchen um, wir stehen in zentralen Fragen für wirklich progressive Inhalte: Umwelt, Energie, Integration, soziale Gerechtigkeit, Kampf gegen Rechts."
Und trotz der schlechten Umfragewerte im Bund: Die Grünen gehören zu den relevanten politischen Kräften im Land. Vor allem dort, wo es eher um spezifische Themen und Projekte geht, und weniger um grundsätzliche Fragen des Wählers.
In den Bundesländern regieren die Grünen in unterschiedlichsten Konstellationen in elf Bundesländern mit, in Baden-Württemberg stellen sie den Ministerpräsidenten. Die Mitgliederzahlen steigen, mit 61.600 gibt es so viele Grüne mit Parteibuch wie nie zuvor.
In Katharina Schulzes Landesverband sind allein in diesem Jahr schon 500 neue Mitglieder hinzugekommen. Ein Trump-Effekt, wenn man so will: "Die Leute merken, dass vieles, was ihnen selbstverständlich ist, auf dem Spiel steht: die Demokratie, Pressefreiheit, Weltoffenheit."
Zu kopflastig fürs postfaktische Zeitalter
Doch mehr Mitglieder bedeuten nicht auch gleich mehr Wählerstimmen. Politologe Ingolfur Blühdorn, der sich intensiv mit der Entwicklung der Partei befasst hat, hält die derzeitigen Werte für den Normalzustand. "Wer geglaubt hat, die Grünen holen zwölf Prozent oder mehr, der ist ein schlechter gesellschaftlicher Beobachter."
In ihrer Geschichte haben die Grünen erst ein einziges Mal einen zweistelligen Prozentsatz bei Bundestagswahlen erreicht, das war 2009 mit 10,7 Prozent.
Dieses Ergebnis und die Umfragewerte von über 20 Prozent danach bezeichnet Blühdorn als "Zwischenhoch". Schon kurz danach habe sich aber ein Wertewandel in der Bevölkerung bemerkbar gemacht: "Die nicht-rationalen Ideen sind derzeit die eigentlich inspirierenden. Anders kann man sich Trump, Le Pen und die AfD nicht erklären. Das ist der Zeitgeist: Ein nennenswerter Teil der Bürger hat das Vertrauen in die sogenannte Vernunft verloren und hört derzeit eher auf sein Bauchgefühl. Im postfaktischen Zeitalter sind die Grünen zu kopflastig."
Und ihre Wähler sind verbürgerlicht. Die Daten der Wahlforscher ergeben ein klares Bild: Wer sein Kreuz bei den Grünen macht, gehört mit hoher Wahrscheinlichkeit zu den 35- bis 55-Jährigen, hat studiert und verdient überdurchschnittlich. Nicht umsonst liegen die Hochburgen der Partei in den Akademiker-Vierteln der großen Städte, Stichwort Prenzlauer Berg.
Die Klientel versteht sich selbst als links - jedenfalls da, wo es nicht ans Geld geht: Homo-Ehe ja, Steuererhöhungen nein.
In Baden-Württemberg regiert mit dem pragmatischen
"Das interessiert keine Sau"
Katharina Schulze sieht ihren Parteifreund in einem anderen Licht: "Winfried Kretschmann hat eine Neubewertung der Sicherheitslage in Afghanistan gefordert, Sigmar Gabriel hält das nicht für nötig. Horst Seehofer setzt weiter stur auf Abschreckung durch öffentlich inszenierte Abschiebeaktionen, Kretschmann hat 1.100 jesidische Frauen und Kinder aufgenommen. Das ist ein großer Unterschied in der Wertehaltung."
Trotzdem steht Kretschmann mit seiner grün-schwarzen Koalition sinnbildlich für die Annäherung der Grünen an die Konservativen. Schon nach der Bundestagswahl 2013 hatte die Partei Sondierungsgespräche mit der Union geführt. Diese scheiterten zwar, offenbarten aber weniger inhaltliche Streitpunkte als angenommen.
Nun, da die SPD unter Martin Schulz wiedererstarkt, redet Spitzenkandidat Cem Özdemir immer öfter von Rot-Grün.
Katharina Schulze kann die Frage nach den Koalitionsoptionen nicht mehr hören: "Wir sind keine Umwelt-App von irgendjemandem. Ich mache auch keinen Wahlkampf für eine andere Partei. Wir haben genug zu tun."
Politologe Ingolfur Blühdorn hält es sogar für kontraproduktiv, mit einer klaren Koalitionsaussage in den Wahlkampf zu gehen: "Es spricht nichts gegen Rot-Grün und nichts gegen Schwarz-Grün. Machtoptionen gibt es also, zumindest theoretisch, sogar mehrere. Aber inhaltlich müssen sie sich festlegen."
Er bemängelt die unklare Ausrichtung, auch das Spitzenpersonal um Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir kommt nicht gut weg: "Das Personal ist uninspirierend." Der Partei und ihren Leuten fehle das Alleinstellungsmerkmal.
Grüne 2017: Mehr als nur öko?
Also zurück zur Öko-Partei? Das seien die Grünen nicht mehr, meint Katharina Schulze: "Diese Reduzierung auf die Öko-Partei ist nicht richtig. Wir sind eine Vollpartei. Natürlich haben wir Konzepte für alle Bereichen des Lebens."
Auch für die Sicherheitspolitik, Schulzes Fachgebiet, das zu den dominanten Themen des Wahlkampfs gehören wird. "Wir verstehen, dass die Menschen sicher leben wollen - aber auch frei", umreißt Schulze das abwägende Sicherheitskonzept, das die Grünen nach dem Anschlag von Anis Amri vorstellten.
Die Vorschläge allerdings waren in der Öffentlichkeit kaum präsent - wohl aber der erbitterte innerparteiliche Streit um die "Nafri"-Kritik der Bundesvorsitzenden Simone Peter.
Was bleibt, ist dieser Eindruck: Die Grünen wissen nicht, wer sie sein wollen. Eine schlechte Voraussetzung, um Wähler zu überzeugen. Oder, um es mit Robert Habeck auszudrücken: "Schluss mit der Selbstbeschäftigung. Das interessiert außerhalb der Grünen keine Sau."
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