Seit 1998 regiert die SPD – mit Ausnahme einer Legislaturperiode – in Deutschland. Bei der Bundestagswahl haben die Sozialdemokraten ihr schlechtestes Ergebnis aller Zeiten eingefahren – und stehen nun vor einer folgenschweren Entscheidung: Regieren oder Erneuern?
Grabesstille herrscht in der SPD-Parteizentrale, dem Willy-Brandt-Haus, am Abend des 23. Februar. 16 Prozent lautet die erste Prognose um 18 Uhr – das schlechteste Ergebnis aller Zeiten für die (einstige) Volkspartei.
Normalerweise stünde jetzt ein Erneuerungsprozess an. Doch so einfach wird es diesmal nicht. Anders als die Union, die nach der Kanzlerschaft von
Erneuerung auf der Regierungsbank, ob das möglich ist?
SPD spricht von Gesprächen mit offenem Ausgang
SPD-Generalsekretär
Miersch und Co. muss ein Spagat gelingen: Einerseits will die SPD staatspolitische Verantwortung zeigen. Andererseits muss die Erwartungshaltung der Partei befriedet werden. Dort ist der Druck groß. Juso-Chef Philipp Türmer stellte im Gespräch mit dieser Redaktion bereits klar: Regieren ist kein Selbstzweck und man könne "Verhandlungen nur ehrlich führen, wenn sie einen offenen Ausgang haben und kein Einigungszwang besteht".
Türmer fordert, dass die Alltagsprobleme der Menschen in den Mittelpunkt der Sondierungsgespräche stehen. Und macht sogar die Andeutung, dass es besser sein könne, Neuwahlen anzustreben statt einem "Weiter-so"-Koalitionsvertrag zuzustimmen.
Die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil machten außerdem deutlich: Mit der SPD werde es in Sachen Investitionen und Finanzierung kein "Entweder-Oder" geben – Verteidigungsausgaben dürften nicht gegen Infrastrukturinvestitionen und den sozialen Zusammenhalt ausgespielt werden.
Entscheiden sollen am Ende die Mitglieder
In einem Offenen Brief haben SPD-Mitglieder ihre Partei aufgefordert, einen Erneuerungsprozess anzustoßen und eine "sozialdemokratische Vision" zu finden. Mit einem klaren Fokus auf die aktuellen Probleme – Wohnraum, Bildung, Bezahlbarkeit, soziale Sicherheit und die Klimakrise. Die SPD soll wieder mehr nach links rücken, so der Tenor. Eine Arbeitsgruppe fordert darüber hinaus eine personelle Neuaufstellung. Kurz: In der SPD rumort es.
Den Erneuerungsprozess hat Miersch nun auf den Weg gebracht, inwiefern die Partei an der Seite der konservativen Merz-Union tatsächlich ihr Profil wird schärfen können: fraglich. Ziel des Prozesses solle sein, "soziale Politik im 21. Jahrhundert zu formulieren". Dahinter steht wohl auch die Erkenntnis, dass sich der SPD-Wahlkampf im Jahr 2029 kaum mit der Aussage "Wir haben Schlimmeres verhindert" gewinnen wird.
Für die Sozialdemokraten geht es zunächst darum, Glaubwürdigkeit und Vertrauen wieder herzustellen – auch nach innen. Denn die finale Entscheidung über den Eintritt in eine mögliche Koalition mit der Union und
Der Handlungsspielraum ist beschränkt
Denen bleibt, wenn man ehrlich ist, kaum eine Wahl. Die Ergebnisse der Bundestagswahl führen dazu, dass Schwarz-Rot die einzige Möglichkeit für eine stabile Regierung abseits der AfD ist.
Dass Friedrich Merz eine Koalition mit der AfD eingehen würde, gilt als unwahrscheinlich. Trotzdem hat der CDU-Chef Ende Januar Zweifel an seiner klaren Absage an die Rechtsaußenpartei entstehen lassen. Damals nämlich brachte er einen Entschließungsantrag und einen Gesetzentwurf ein, von denen er wusste, dass sie ohne Stimmen der AfD keine Mehrheit bekommen konnten. Merz nahm die Zusammenarbeit mit der AfD willentlich in Kauf.
Wahrscheinlicher ist aber: Scheitern die Gespräche, drohen Neuwahlen. Ein Szenario, das alle Beteiligten vermeiden wollen. Schließlich könnte die AfD davon weiter profitieren. Sie hätte erneut ein Mobilisierungsthema. Die Parteien der Mitte hingegen müssten mit weiteren Verlusten rechnen.
Bei Scheitern der Gespräche droht Neuwahl
Dass also eine Neuwahl die Bildung einer Regierung erleichtern und die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der demokratischen Mitte verbessern könnte, ist eher unwahrscheinlich.
Für die Sozialdemokraten bedeutet all das: Sie stecken in einem Dilemma zwischen dem dringend notwendigen Erneuerungsprozess, um sich wieder auf den Weg zu machen in Richtung linker Volkspartei, und der staatspolitischen Verantwortung, die Sondierungs- und Koalitionsgespräche zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen.
Zumindest mit Blick auf den zweiten Punkt bedeutet das für die Genossen aber auch, dass sie Merz einige Kompromisse abringen könnten, die die Union bislang ausgeschlossen hätte. Gerade im Bereich der sozialen Sicherheit oder aber Investitionen in die Infrastruktur. Denn eins ist klar: Die Union dürfte mindestens genau so interessiert an einem gelungenen Abschluss der Verhandlungen sein wie die Genossen selbst.
Verwendete Quellen
- Eigene Beobachtungen