23 Direktkandidaten dürfen nicht in den Bundestag einziehen, obwohl sie in ihrem Wahlkreis die meisten Stimmen geholt haben. Grund ist die Wahlrechtsreform, über die jetzt wieder hitzig diskutiert wird. Worum es geht und was Verlierer und Experten sagen.

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Unschöne Szene am Sonntagabend im Augsburger Moritzsaal, wo die lokale Parteiprominenz nach der Bundestagswahl zusammenkommt: Die Bundestagsabgeordnete Claudia Roth von den Grünen, derzeit noch Kulturstaatsministerin, will dem Augsburger Bundestagsabgeordneten Volker Ullrich von der CSU zum Gewinn des Direktmandats gratulieren. Doch Ullrich verweigert seiner unterlegenen Kandidatin den Handschlag. "Gehen Sie weg", blafft er sie an. "Sie sind keine Demokratin." Roth ist entrüstet: "Eine Unverschämtheit."

Grund für Ullrichs miese Laune: Er hat zwar die meisten Erststimmen im Wahlkreis Augsburg-Stadt geholt, ist aber aufgrund einer neuen Regel im Wahlrecht trotzdem nicht Teil des neuen Bundestags. Anders die Zweitplatzierte Roth: Sie zieht über die Landesliste ihrer Partei ein.

Was genau besagt die Neuregelung?

Bei der Bundestagswahl hat erstmals das von der Ampel-Regierung reformierte Wahlrecht gegriffen. Anders als früher entscheidet nun allein das Zweitstimmenergebnis einer Partei in einem Bundesland über die Zahl der Mandate.

Gewinnt sie mehr Direktmandate, als ihr Mandate zustehen, gehen die Direktkandidaten mit den schlechtesten Erststimmenergebnissen leer aus. Überhang- und Ausgleichsmandate gibt es nicht mehr.

Warum wurde das Wahlrecht geändert?

Durch Überhang- und Ausgleichsmandate ist der Bundestag über die Jahre massiv gewachsen, auf zuletzt 736 Parlamentarier. Zum Vergleich: 1990 waren es 662. Das kam den Staat teuer zu stehen. Das reformierte Wahlrecht begrenzt die Zahl der Abgeordneten auf 630.

Jährlich spart das 125 Millionen Euro, wie das Institut der deutschen Wirtschaft ausgerechnet hat. Hinzu kommt, dass ein schlankes Parlament effektiver ist. Denn in den Ausschüssen, wo die Gesetze ausgearbeitet werden, wird die Zusammenarbeit mit zunehmender Größe eher schwieriger.

Wie viele Wahlkreise sind betroffen?

Der Fall Ulrich in Augsburg ist kein Einzelfall: Bundesweit kommen 23 Wahlkreisgewinner nicht in den Bundestag. Betroffen sind 18 Bewerber von CDU und CSU, vier von der AfD und einer von der SPD.

Wobei die Mehrzahl der betroffenen Wahlkreise dennoch in Berlin vertreten ist, weil mindestens ein Direktkandidat über die Liste einzieht, zuweilen auch zwei oder drei. Lediglich vier Wahlkreise haben in der neuen Legislatur keinen Abgeordneten, der sie direkt repräsentiert: Lörrach-Müllheim, Tübingen, Stuttgart II und Darmstadt.

Wie reagieren die Betroffenen?

Volker Ullrich ist auch am Tag nach der Wahl noch verärgert. "Es war zynisch und damit nicht in Ordnung, dass sie [Claudia Roth; Anm. d. Red.] mir gratulieren wollte, obwohl sie dieses Wahlrecht selber möglich gemacht hat", sagt er der "Augsburger Allgemeine" am Montag. Auch beim Vorwurf, die Neuregelung sei undemokratisch, bleibt er: "Wir haben ein demokratisches Problem, weil Wählerstimmen jetzt nicht repräsentiert werden."

Ins gleiche Horn blasen andere Betroffene von der Union: Die Regelung sei "ungerecht" und "gefühlt undemokratisch", bei den Wählern herrsche Unverständnis, so Petra Nicolaisenaus (CDU) aus dem Wahlkreis Flensburg-Schleswig gegenüber dem "Spiegel".

"Es ist genau das eingetreten, wovor wir bei der Debatte um dieses Ampelwahlrecht gewarnt haben. Nämlich, dass in Deutschland jetzt mehrere Wahlkreise verwaist sind", sagt Christoph Naser (CDU) aus dem Wahlkreis Tübingen der Deutschen Presse-Agentur (dpa).

Die Reaktionen verwundern nicht, war die Union doch immer gegen die Reform. Ulrike Hiller (SPD) ist die einzige Betroffene einer der Ampel-Parteien, die das neue Wahlrecht beschlossen haben – und sieht die Sache ganz anders.

"Natürlich wäre es toll gewesen, wenn es auch mit dem Sitz im Bundestag geklappt hätte", sagt Hiller im Gespräch mit unserer Redaktion. "Aber ich wusste ja, unter welchen Bedingungen ich antrete."

Wut verspüre sie über die Regelung selbst keine. Vielmehr überwiege die Freude über das positive Ergebnis, "und diesen Sieg lasse ich mir nicht nehmen". Bei den Wählern in Bremen habe sie "eine gewisse Form der Enttäuschung" wahrgenommen, aber keine Empörung oder ähnliches.

Auf die Frage, ob das reformierte Wahlrecht fair sei, wo es doch vor allem Bewerber von Union und AfD am Einzug hindert, antwortet Hiller: "Ich bin Juristin und weiß deshalb: Bei solchen komplexen Themen gibt es keinen Weg, der für alle gleich gut ist. Aus einem demokratischen Verständnis kann ich die Reform nachvollziehen."

Ähnlich sieht es Christian Kriegel, Betroffener von der AfD aus Leipzig. Natürlich sei das persönlich "bitter", so Kriegel gegenüber dem MDR, aber: "Grundsätzlich ist diese Wahlrechtsreform ein Schritt in die richtige Richtung gewesen."

Was sagen Experten?

Unstrittig ist, dass der Bundestag nicht immer weiter wachsen sollte. Auch hat das Bundesverfassungsgericht die jetzige Regelung für zulässig erklärt.

Sebastian Jäckle, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Freiburg, sieht alle Parteien fair behandelt. Das Resultat im Bundestag entspreche bei den Parteien, die über fünf Prozent kamen, schließlich exakt dem Verhältnis bei den Zweitstimmen, argumentiert er im Gespräch mit der ARD.

Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung, der Mitglied der von der Ampel-Regierung eingesetzten Kommission zur Reform des Wahlrechts war, sagt: "Ich würde dringend empfehlen, am Prinzip der Zweitstimmendeckung nicht zu rütteln." Die Diskussion um Überhang- und Ausgleichsmandate dürfe nicht wieder von vorne losgehen. Um Enttäuschungen wie den jetzt entstandenen vorzubeugen, schlägt er jedoch vor, dass derjenige den Wahlkreis gewinnen solle, der die meisten durch Zweitstimmen gedeckte Erststimmen hat.

Andere Experten plädieren dafür, die Zahl der Wahlkreise zu reduzieren. Überhangmandate wäre dann unwahrscheinlich. Selbstverständlich würde auch dieses System Verlierer produzieren, weil dann weniger Direktmandate zu vergeben wären.

Und jetzt?

Der designierte zukünftige Bundeskanzler Friedrich Merz verlangt eine Korrektur des Wahlrechts. Die SPD müsse bereit sein, darüber zu sprechen, sagte Merz – womit die Liste der schwierigen Themen der Koalitionsverhandlungen um einen Punkt länger ist.

Verwendete Quellen: