Die selbsternannte Fortschrittskoalition aus SPD, Grünen und FDP ist Anfang November zerbrochen. Jetzt darf kein Rückschritt folgen, warnt Philipp Türmer, Bundesvorsitzender der SPD-nahen Jugendorganisation Jusos.

Ein Interview

Philipp Türmer sieht man die Strapazen der vergangenen Monate an, er wirkt müde. Seit einem Jahr ist er Bundesvorsitzender der Jusos. Vor allem eine Frage dominierte seitdem die Bundespolitik: Hält die Koalition unter Führung der Juso-Mutterpartei SPD oder zerbricht sie? Inzwischen herrscht Gewissheit.

Mehr aktuelle News

Nun haben die Parteien drei Monate Zeit für den Wahlkampf. Standesgemäß sind die Jugendorganisationen dabei ein wichtiger Motor. Doch bei der derzeitigen Kanzlerpartei SPD steht der Kanzlerkandidat noch nicht fest. Ein Zustand, der Philipp Türmer sehr besorgt.

Herr Türmer, die K-Frage spaltet zunehmend die SPD. Sie haben sich öffentlich noch nicht positioniert. Wer ist Ihnen denn lieber: Olaf Scholz oder Boris Pistorius?

Philipp Türmer: Ich habe bereits eine schnelle Entscheidung der SPD-Spitze gefordert. Kurz vor dieser Entscheidung positioniere ich mich nicht.

Welcher Kandidat brächte mehr Vorteile für die Partei?

Die Ampel-Koalition ging erst vor wenigen Tagen in die Brüche. Es ist offensichtlich, dass Olaf Scholz daran zu knabbern hat. Wenn man sich für ihn entscheidet, muss man beantworten, wie man diese Glaubwürdigkeitsprobleme löst. Die sind schließlich auch mit dem Vertrauensverlust vieler Bürger:innen verbunden, da muss man aktiv gegensteuern und eigene Lösungen aufzeigen.

Und Boris Pistorius?

Mit ihm hat man einen sehr beliebten Verteidigungsminister. Doch Beliebtheit bedeutet nicht eins-zu-eins Wähler:innen-Stimmen. Bei Themen wie Soziales oder Wirtschaft, die er in der Vergangenheit nicht so stark bespielt hat, müsste man dann bestimmt nochmal nachlegen. Zumal viele wichtige Themenfelder wie Soziales oder Wirtschaft von ihm noch nicht so stark bespielt wurden.

"Wir als Jusos haben eine bestimmte Vorstellung davon, was wir uns von der Ausrichtung eines SPD-Wahlkampfs wünschen. Dafür braucht es einen glaubwürdigen Kandidaten, der das vermittelt."

Philipp Türmer

Haben Sie Angst, dass dieses Hin und Her um die K-Frage der Partei nachhaltig schaden könnte?

Ich bin sogar sehr besorgt angesichts der Situation der SPD. Deshalb ist es auch so wichtig, dass die Personalfrage und parallel dazu die Frage nach den zentralen Inhalten des Wahlkampfs schnellstmöglich geklärt wird.

Würden sich die Jusos im Wahlkampf hinter jeden der beiden Kanzler-Kandidaten stellen?

Wir als Jusos haben eine bestimmte Vorstellung davon, was wir uns von der Ausrichtung eines SPD-Wahlkampfs wünschen. Dafür braucht es einen glaubwürdigen Kandidaten, der das vermittelt.

Die wären?

Wir glauben, dass es zwei Themen gibt, auf die man eine SPD-Kampagne zuspitzen muss: zum einen die große Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Wir brauchen eine Steuerpolitik, die die 95 Prozent Gering- und Normalverdienenden besserstellt und diejenigen mit extrem hohen Vermögen endlich fair an der Finanzierung unseres Gemeinwesens beteiligt.

Und zum anderen?

Ich will, dass junge Menschen wieder das Gefühl haben, in einem der modernsten Länder der Welt zu leben. Das haben viele im Moment nicht. Und deswegen müssen wir kräftig investieren. Wir müssen dieses ganze Land modernisieren. Wir müssen unsere Infrastruktur wieder in Stand setzen. Die Carola-Brücke ist dafür Sinnbild. In Schulen darf der Putz nicht mehr von der Decke bröckeln. Die Bahn muss erneuert werden. Wir brauchen das beste Netz überall.

Die SPD ist aber immer noch regierende Kanzlerpartei und saß die letzten Jahre am Hebel, genau hier etwas zu verändern. Trotzdem sprechen wir gegen Ende der Legislatur immer noch über dieselben Probleme. Ist das also auch als Kritik an der SPD zu verstehen?

Das Problem, weshalb nicht mehr investiert wurde, war und ist die Schuldenbremse. Sie steht einer handlungsfähigen Politik ganz stark entgegen. Sie ist die Handbremse für unsere Zukunft. Das muss eine neue Regierung dringend angehen. Deshalb muss das auch eine Koalitionsbedingung der SPD werden.

Ein Thema, das immer wieder hinten runterfällt, ist die Jugend. Sie sind Vorsitzender der Jugendorganisation der SPD. Allerdings wird die Partei primär von älteren Menschen gewählt. Woran liegt das?

Vermutlich auch daran, dass wir in der Vergangenheit Themen mit zentraler Bedeutung für junge Menschen nicht immer so viel Gewicht zugemessen haben. Wir wollen klar den Fokus auf Themen setzen, die junge Menschen umtreiben.

Mit Kevin Kühnert als Generalsekretär hatte die SPD knapp drei Jahre lang einen jungen Menschen im engsten Führungskreis. Matthias Mirsch ist allerdings wesentlich älter. Wieso setzt die SPD nicht auch in der Führungsriege wieder auf junge Menschen?

Ich bedauere den Rückzug von Kevin sehr, wünsche ihm eine gute Besserung und hoffe, dass er wieder zurück in die Politik kehrt. Zur Frage: Politik für junge Menschen zu machen, kann nicht nur die Aufgabe junger Menschen sein. Das muss eine Gesamtaufgabe für eine Partei sein.

"Wir als junge Generation wollen nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Deshalb müssen wir dafür kämpfen, dass diese 1,98 Meter Vergangenheit nicht ins Kanzleramt einziehen."

Philipp Türmer

Die Ampel ist am Haushalt gescheitert, überall liest man vom Wirtschaftswahlkampf. Wo bleiben da die Themen für die Jugend?

Mein Eindruck ist, dass das Thema Wirtschaft junge Menschen schon ziemlich interessiert. Denn damit sind auch Fragen wie Erhalt der Industrie oder Erhalt gut bezahlter Arbeitsplätze verbunden. Junge Menschen leben noch ziemlich lange in diesem Land, daher sind solche Themen auch wichtig für sie.

Sollte eine Regierung unter Führung der Union – und damit wohl unter Friedrich Merz – zustandekommen, gibt es bereits eine Liste mit Projekten, die er wieder rückgängig machen will. Darunter auch das Selbstbestimmungsgesetz und die Kindergrundsicherung. Was bedeutet das für junge Menschen?

Wir müssen einen klaren Richtungswahlkampf führen und zeigen: Friedrich Merz hat keine eigenen Ideen, der hat nur aufgekochte Vorstellungen aus den 90ern. Wir als junge Generation wollen nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Deshalb müssen wir dafür kämpfen, dass diese 1,98 Meter Vergangenheit nicht ins Kanzleramt einziehen.

Klingt siegessicher.

Ich glaube, da ist noch ganz viel Dynamik möglich in den nächsten Monaten. Das kann in alle Richtungen gehen und es ist alles andere als ausgemacht, wer am Ende Kanzler:in wird.

Ihr Leitantrag, den Sie am Wochenende auf dem Bundeskongress einbringen wollen und der unserer Redaktion vorab vorlag, liest sich genauso optimistisch. Mit welchen Themen wollen Sie im Wahlkampf für die SPD punkten, um die Jugend wieder abzuholen?

Zum Beispiel muss der Paragraf 218 endlich aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden, auch wenn Friedrich Merz da ganz anderer Meinung ist. An das Thema Mental Health müssen wir im Sinne junger Menschen ran. Wir fordern mehr Kassenplätze für Psychoterapeuth:innen. Ein weiterer wichtiger Punkt für die Jugend ist das Thema Wohnen. Vor allem junge Menschen ziehen häufig um und sind auf diesen aktuell völlig dysfunktionalen Mietmarkt angewiesen. Wir wollen eine WG-Garantie für Studierende und Azubis. Jeder von ihnen soll ein WG-Zimmer für höchstens 400 Euro bekommen.

"Ich bin überzeugt, dass eine bessere Welt möglich ist. Dass wir es selbst in der Hand haben, unsere Gesellschaft zu verändern."

Philipp Türmer

Es mangelt schon heute an Sozialwohnungen, wie soll das finanziert werden?

Studierenden- und Azubiwohnheime müssen massiv ausgebaut werden, eine Anpassung beim Wohngeld wäre ein Hebel zur Finanzierung. Aber auch Ausweitung der Bafög-Wohnungspauschale ist eine Möglichkeit. Letztlich spricht für mich auch nichts gegen ein gezieltes Eingreifen in den Markt, um Wuchermieten zu unterbinden.

Der Bundeskongress steht unter dem Motto: "120 Jahre. Überzeugung ist kein Trend". Wovon sind Sie überzeugt?

Ich bin davon überzeugt, dass eine bessere Welt möglich ist. Dass wir es selbst in der Hand haben, unsere Gesellschaft zu verändern. Im Moment liest man überall Erzählungen vom Ende der liberalen Demokratien. Das finde ich ganz furchtbar. Liberale Demokratien können die Probleme der modernen Welt lösen – Vertrauen lässt sich zurückgewinnen. Voraussetzung dafür ist aber, dass man sich stärker um den sozialen Zusammenhalt und damit auch die soziale Gleichheit und die Chancengleichheit bemüht.

Über den Gesprächspartner:

  • Philipp Türmer ist Jahrgang 1996 und seit 17. November 2023 Bundesvorsitzender der Jusos, der Jugendorganisation der SPD. Er stammt aus Offenbach am Main, studierte Wirtschaftswissenschaften und arbeitet gerade an seinem zweiten juristischen Staatsexamen und einer Doktorarbeit an der Universität Frankfurt.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.