In der Umfragekrise haben sich die Grünen mit Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt ein Spitzenduo gewählt, das wie die Partei selbst einen aufregenden Weg hinter sich hat – aber heute eher spießig wirkt.

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Einst waren sie beide Revolutionäre. Katrin Göring-Eckardt marschierte in der Bürgerrechtsbewegung gegen das SED-Regime in der DDR, Cem Özdemir schaffte es 1994 als erster Abgeordneter mit türkischen Wurzeln in den Bundestag.

Heute, fast eine Generation später, bilden sie das Spitzenduo der Grünen für die Bundestagswahl im Herbst - und verkörpern die Verbürgerlichung der einstigen Revoluzzer-Partei.

Brav, bürgerlich, bieder, so lautete nach der Kandidatenkür durch die Mitglieder im Januar das Urteil des konservativen Polit-Magazins "Cicero".

Der Politikwissenschaftler Ingolfur Blühdorn nannte das Spitzenduo gegenüber unserer Redaktion schlicht "uninspirierend".

Cem Özdemir: ein anatolischer Schwabe

Als der heutige Parteichef Cem Özdemir in den Bundestag einzog, war er eine Sensation. Erst 28 Jahre alt, mit "formvollendeten Manieren", wie das "Handelsblatt" einmal schrieb, als müsste man das betonen beim ersten Deutsch-Türken im Parlament.

1965 wurde Özdemir als einziges Kind türkischer Einwanderer in Bad Urbach geboren, sein Kernthema wurde ihm sozusagen in die Wiege gelegt.

1981 trat er bei den Grünen ein, interessierte sich zwar auch für die Umwelt-, vor allem aber für Migrations- und Integrationspolitik. Er selber ist nicht eingewandert, das betont er immer wieder, auch in seiner Biografie "Der anatolische Schwabe".

Er schwäbelt besser als er türkisch spricht, die Sprache seiner Eltern lernte er erst als Erwachsener. Parteifreundin Claudia Roth witzelte einmal: "Der Cem ist schwäbischer als ich." Wie gläubig er ist, behält er für sich.

Die Co-Fraktionsvorsitzende Katrin Dagmar Göring-Eckardt hat sich dagegen beeilt, ihren Thüringer Heimatdialekt abzulegen, der ihr unangenehm ist, wie sie dem Talkmaster Jörg Thadeusz vergangenes Jahr gestand.

Kritiker legen ihr das als einen opportunistischen Schachzug aus. Ihnen gilt die 51-Jährige als kühl und berechnend im Umgang und als allzu wendig in inhaltlichen Punkten.

Sie war 2003 Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag und damit hauptverantwortlich dafür, dass nur sechs Abgeordnete aus den eigenen Reihen gegen die Hartz-IV-Reform stimmten.

Heute gibt sie geläutert "einige Fehler" zu, vor allem bei Wahlkampfauftritten im Osten erklärt sie die soziale Frage zu einem entscheidenden Thema.

Katrin Göring-Eckardt: "Die Grüne Angela"

In den Monaten bis September müssen die grünen Spitzenkandidaten einen Eiertanz vollführen: Im Wahlprogramm der Grünen finden sich linke Ideen wie die Vermögenssteuer, gegen die sich Cem Özdemir ausgesprochen hat.

2013 hatten die Grünen neben Katrin Göring-Eckardt noch Jürgen Trittin aufgestellt, einen alten linken Kämpfer und ehemaligen Umweltminister. Trittin sagte damals zu seiner Mitstreiterin: "Du holst uns Stimmen, die wir sonst nicht kriegen."

Aber das Realo-Duo Özdemir und "KGE" ist eine Koalitionsoption zur CDU auf vier Beinen. Beide nahmen an den Treffen der "Pizza Connection" teil, den gemeinsamen Essen von Nachwuchspolitikern der Grünen und der Union in den 90er Jahren. "KGE", wie sie parteiintern genannt wird, soll Angela Merkel geradezu bewundern.

Die die "FAZ" nannte sie einmal sogar "die Grüne Angela". Die Gemeinsamkeiten liegen nicht nur in der Herkunft: Beide im Osten aufgewachsen, beide christlich sozialisiert – Merkel im eigenen Elternhaus, Göring-Eckardt sogar im Theologie-Studium, das sie aber laut eigenem Bekunden nur halbherzig verfolgt und abgebrochen hat.

Trotzdem übernahm sie wichtige Funktionen in der Kirche, vor allem als Präses der Synode der Evangelischen Kirche. 1988 heiratete sie den Pfarrer Michael Göring, mit dem sie zwei Söhne hat.

Mittlerweile leben die beiden getrennt. Der neue Mann an ihrer Seite heißt Thies Gundlach und ist Vizepräsident der Evangelischen Kirche.

Aufstieg, Absturz, Comeback

Wie Angela Merkel gehört Göring-Eckardt nicht zu den mitreißenden Rednern in der deutschen Spitzenpolitik, soll in kleinen Runden aber Witz zeigen. In Talkshows fährt sie nie aus der Haut, eine Rolle, die Cem Özdemir auch nicht, aber schon eher liegt.

Der Parteienforscher Oskar Niemayer vermutete denn auch im "Deutschlandfunk", dass der 51-Jährige in der Außenwirkung den Part des "inoffiziellen Spitzenkandidaten" übernehmen wird.

Denn Özdemir dürfte bekannter sein, allerdings sind auch einige Skandale hängengeblieben. Politische Gegner weisen gern süffisant auf die Hanfpflanze hin, die der zweifache Vater auf seinem Balkon platziert hat – gut sichtbar für alle, die im Sommer 2014 sein Video zur "Icebucket Challenge" anklickten.

Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein. Nicht so glimpflich ging die "Bonus-Meilen-Affäre" aus. 2002, schon zum innenpolitischen Sprecher aufgestiegen, wurde bekannt, dass Özdemir dienstlich erworbene Bonusmeilen privat nutzte – und außerdem ein Darlehen über 80.000 Mark von einem PR-Berater angenommen hatte.

Er trat zurück und kämpfte sich ab 2004 über das Europaparlament wieder in die Politik zurück. 2008 wurde er zum ersten Vorsitzenden einer Bundestagspartei, der einen Migrationshintergrund hat.

Von ganz oben nach ganz unten und wieder zurück: Das ist eine Geschichte, wie sie sich auch die kriselnde Partei wünschen würde.

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