Bei der Europawahl 2019 tritt Katarina Barley als Spitzenkandidatin der SPD an. Dafür gibt sie ihr Amt als Bundesministerin auf - das gab es noch nie. Warum sie sich zu diesem Schritt entschlossen hat, wie sie zu Kevin Kühnerts Sozialismusthesen steht und was ihrer Meinung nach der größte Fehler der EU ist, beantwortet sie im Interview.

Ein Interview

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Frau Barley, Sie wechseln vom Bundeskabinett ins EU-Parlament. Ein ungewöhnlicher Schritt – manche würden sagen: ein Rückschritt. Sind Sie in Brüssel dann "nur" einfache Parlamentarierin oder was sind Ihre Pläne?

Katarina Barley: Das hängt ja nicht nur von mir ab. Es kommt auf das Wahlergebnis an und wie sich die einzelnen Parteien zusammenfinden. Das ist nichts, was man planen kann.

Sie sagen, der Wechsel ins EU-Parlament falle Ihnen nicht leicht, aber Sie täten das aus voller Überzeugung für die europäische Idee. Denken Sie nicht, Sie hätten als Bundesministerin am Ende mehr für Europa erreichen können?

Das Amt der Justizministerin ist sicherlich sehr einflussreich, aber meine Nachfolgerin [noch nicht benannt; Anm. d. Red.] wird das schon gut machen. Aber es geht jetzt darum, dass das Europaparlament eine starke Sozialdemokratie bekommt, denn da geht es um nichts weniger als die Frage, wohin sich Europa entwickeln wird.

Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass eine amtierende Ministerin oder ein amtierender Minister das Amt zur Verfügung stellt, um für eine Europawahl zu kandidieren. Das ist durchaus als Statement gedacht, wie ernst es uns ist.

Es gibt allerdings Kritik an Ihrem Wahlkampf. Es heißt, dass er zu "wohlfühlig" sei, zu wenig politisch. Angesichts der Situation, in der sich die EU befindet: Glauben Sie, es reicht aus, einen so vergleichsweise ruhigen und wenig kämpferischen Wahlkampf zu führen?

Jeder Mensch ist, wie er ist. Es hat gar keinen Sinn, sich als Politikerin oder Politiker zu verbiegen. Ich bin ein Mensch, der lieber mit Menschen redet, als über ihre Köpfe hinweg. Ich habe das als normale Bürgerin immer gehasst, wenn sich jemand auf ein Podium stellt, möglichst drei Meter über mir, mich 30 Minuten lang anschreit und dann wieder wegfährt.

Als ich gesagt habe, ich übernehme diesen Wahlkampf, habe ich auch gesagt, ich will das unbedingt anders machen. Ich will einen Gesprächswahlkampf führen. Ich will, dass die Menschen wirklich zu mir auf die Bühne kommen und ihre Fragen, ihr Lob oder ihre Kritik selbst formulieren können und ich darauf ganz konkret Antwort geben kann – Auge in Auge.

Denken Sie, dass die Diskussionen um Kevin Kühnerts Sozialismusthesen Ihrem Wahlkampf geschadet haben?

Ich mache mir über solche Fragen wenig Gedanken. Er hat sich so geäußert und ich finde, als Vorsitzender unserer Jugendorganisation ist es auch seine Rolle, Dinge zu hinterfragen. Die Empörungswelle hat ja vorwiegend medial stattgefunden.

Mal unabhängig von Ihrem Wahlkampf: Hat Kevin Kühnert recht?

Was sicherlich richtig ist, ist zu fragen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Und ich höre oft, dass ganz viele das Gefühl haben, es sollte nicht immer alles nur nach finanziellen Interessen beurteilt werden. Auch andere Werte sollen im Vordergrund stehen. Sie haben das Gefühl, wer viel hat, dem wird noch mehr gegeben. Insofern ist es richtig, Fragen aufzuwerfen.

"Gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Männer und Frauen"

Was sind in Zukunft aus Ihrer Sicht die wichtigsten Themen für Europa?

Es gibt zwei wesentliche Entscheidungen. Erstens: Wollen wir ein Europa, das weiterhin auf respektvollen Umgang der Mitgliedsstaaten untereinander, auf Kompromissfähigkeit und gemeinsame Interessen setzt, oder wollen wir ein Europa der Egoisten und Nationalisten?

Die zweite Richtungsentscheidung ist: Wie entwickeln wir dieses demokratische Europa weiter? Die SPD ist der Meinung, die EU muss den Schritt schaffen, von der derzeitigen Wirtschaftsgemeinschaft hin zu einem sozialen Europa.

Zum Beispiel durch unser Projekt eines europaweiten Mindestlohns – natürlich in jedem Land in einer jeweiligen Höhe von 60 Prozent des mittleren Einkommens. Wir wollen endlich vorankommen bei unserem Ziel, dass es den gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt für Männer wie für Frauen.

Dann sind die steigenden Wohnkosten in den Städten und Ballungsgebieten vieler EU-Länder ein großes Problem, da muss die Europäische Union stärker unterstützend eingreifen.

Und natürlich wollen wir, dass auch die, die von unserer guten Infrastruktur und unseren gut ausgebildeten Arbeitskräften profitieren, ihren Teil zum Gemeinwohl beitragen. Deswegen wollen wir eine faire Mindestbesteuerung von Konzernen durchsetzen, damit sich Google, Amazon und Co nicht mehr aus ihrer Verantwortung stehlen. Wer in Europa Geschäfte macht, soll hier auch seine Steuern zahlen.

Was in Ihrer Auflistung nun gar nicht vorkommt, ist Klimaschutz, was aktuell gerade für junge Leute ein sehr großes Thema ist. Warum tut sich die SPD bei dem Thema offenbar so schwer?

Wir tun uns bei dem Thema nicht schwer. Wir reden nicht nur davon, dass jetzt alles erneuerbar werden soll. Sondern sorgen dafür, dass Klimaschutz auch in die Praxis umgesetzt wird. Und wir sind die Einzigen, die das auch wirklich tun, weil wir eben den Klimaschutz mit der sozialen Komponente zusammendenken. Wenn man das Soziale nicht mitdenkt, dann bleiben Menschen auf der Strecke.

Dann passiert das, was wir in den USA erleben. Dann wählen die, die sich abgehängt fühlen, am Ende irgendwelche Klimawandelleugner. Das ist in den USA Donald Trump und bei uns ist das die AfD.

Wenn sich der Klimawandel mehr und mehr zur sozialen Frage entwickelt, wieso findet man das Thema in Ihrem Europa-Wahlprogramm dann erst so weit hinten, als Punkt 7 von 9?

Es geht nicht darum, an welcher Stelle im Wahlprogramm etwas steht. Es geht am Ende darum, was man in der Praxis tut. [Bundesumweltministerin] Svenja Schulze treibt für die SPD gerade das Klimaschutzgesetz voran, wo ganz konkret festgelegt werden soll, welcher Bereich wie viel CO2 einsparen muss. Und wenn die Bereiche Verkehr, Landwirtschaft und Bau ihre Ziele nicht einhalten, gibt es ganz harte finanzielle Sanktionen im dreistelligen Millionenbereich. Ich bin mir sicher, das wird die betreffenden Ministerien schon dazu bringen zu handeln.

Wie ist Ihre Position zum Thema CO2-Steuer?

Wir sind für eine CO2-Bepreisung. Es gibt die ja schon zum Teil über den Emissionshandel für bestimmte Bereiche und wir wollen, dass die Bereiche, die davon noch nicht erfasst sind, auch bepreist werden.

Nein zu Atomenergie, Ja zu russischem Gas

Sie wollen, dass Europa aus der Atomenergie aussteigt …

(unterbricht) Unbedingt! Ich habe bei mir in der Nähe den französischen Atomreaktor Cattenom, der muss aufgrund von Pannen mehrmals im Jahr abgeschaltet werden. Das ist kein gutes Gefühl. Wenn da irgendwas richtig schiefgeht, können wir hier alle nicht mehr wohnen.

Also: Nein zu Atomenergie, Nein zur Kohlekraft – Ja zur Abhängigkeit von russischem Erdgas? Ihr Mitbewerber von der CSU, Manfred Weber, hat bei Nord Stream 2 große Bedenken. Sie nicht?

Wenn wir uns von Atomkraft und Kohle verabschieden, auf russisches Erdgas verzichten wollen, wegen der umweltschädlichen Fracking-Förderung auch auf US-Gas und dann noch über den Abstand von Windrädern streiten – wo beziehen wir dann unsere Energie her?

Nord Stream 2 macht Russland viel mehr abhängig von uns, als umgekehrt. Der russische Haushalt finanziert sich zu großen Teilen aus dem Verkauf von Gas. Während wir jederzeit sagen können, wir wechseln jetzt auf das amerikanische Gas, müsste Russland erst einmal neue Pipelines in andere Regionen verlegen.

Noch einmal zurück zu den jungen Wählern: Sie haben zwei Söhne, der jüngere ist im Teenageralter. Welche Angebote macht die SPD dieser Generation?

Die SPD macht den jungen Wählern vor allem das Angebot, dass sie in Bildung und Forschung stark ist. Wir wollen Austauschprogramme wie Erasmus weiter ausbauen. Wir wollen uns im Bereich Jugendarbeitslosigkeit sehr stark engagieren. Und ich glaube, dass junge Menschen auch verstehen, dass Klimaschutz praktisch nur europäisch umgesetzt werden kann.

Bei der Urheberrechtsreform mussten die SPD und Sie ganz persönlich viel Kritik einstecken. Das ist ein Thema, das insbesondere junge Leute umtreibt. Haben Sie nicht die Sorge, dass Sie gerade von jungen Wählern dafür abgestraft werden?

Ja, die EU-Urheberrechtsreform ist eines der Beispiele, dass Europa nicht schwarz oder weiß ist. Man braucht immer zwei, drei Sätze, um das zu erklären. Es geht um eine ganze Richtlinie, nicht nur um Artikel 13, der jetzt 17 heißt. Es geht um die Bildung und Wissenschaft von morgen. Es geht aber auch darum, vergriffene Werke wieder für die Allgemeinheit zugänglich zu machen. Es geht auch darum, welche Rechte Künstlerinnen und Künstler gegenüber Verwertern haben.

Der nun gefundene Kompromiss enthält viele Verbesserungen des europäischen Urheberrechts. Deutschland kann die Ausgestaltung so einer Richtlinie aber nicht alleine bestimmen. Das ist ein ständiger Kampf zwischen den Interessen der unterschiedlichen europäischen Mitgliedsstaaten.

Auf unseren Druck hin wurden umfassende Regelungen für einen effizienten Beschwerdemechanismus bei Upload-Plattformen in die Vorlage aufgenommen. Das ist essenziell für Meinungsfreiheit und Datenschutz im Netz. Die Plattformen müssen sich verantworten, warum sie bestimmte Inhalte nicht zulassen.

Mir wäre es persönlich am liebsten gewesen, wenn Artikel 13 komplett gestrichen worden wäre. Das haben in der Bundesregierung aber CDU und CSU verhindert. Man kann aber als Ministerin nur über die komplette Richtlinie abstimmen, nicht über einzelne Artikel. Das kann das Parlament, deshalb hat die SPD-Gruppe dort den Antrag gestellt. Das Europäische Parlament hat dagegen entschieden.

Ich habe mich deswegen dafür eingesetzt, die Folgen so weit wie möglich abzumildern. Ein besonders wichtiges Anliegen war für mich, klarzustellen, welche Inhalte von Usern selbst erstellt und hochgeladen werden können. Satire und Memes gehören für mich eindeutig dazu. Am Ende habe ich durchgesetzt, dass Deutschland bei der Zustimmung zur Richtlinie eine Protokollerklärung abgibt. Ziel ist es, sie so umzusetzen, dass "Uploadfilter" weitgehend unnötig werden.

"Müssen wehrhafter werden im Bereich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie"

Wo sehen Sie als erklärte Proeuropäerin den größten Fehler der EU?

Die EU ist ja kein einheitlicher Block, sie verändert sich permanent. Die EU muss sich weiterentwickeln, so würde ich das formulieren. Das gilt zum einen institutionell, wir brauchen mehr Rechte beim europäischen Parlament. Es sollte Gesetzesinitiativen selbst vorschlagen können. Bisher muss es ja darauf warten, dass die Kommission mit einem Vorschlag kommt, zu dem es dann Stellung nehmen kann.

Wir müssen auch das Einstimmigkeitsprinzip abschaffen, wo es noch gilt, vor allen Dingen in Steuerfragen, damit wir eine gerechte Besteuerung in Europa hinbekommen. Und wir müssen dringend im Bereich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wehrhafter werden gegenüber Polen, Ungarn und leider inzwischen weiteren Ländern. Da reichen die Instrumente, die wir haben, nicht aus.

Sie wollen mehr Macht für das Europaparlament. Eine Sache, mit der sich das Parlament bereits durchgesetzt hatte, war die Einführung von Spitzenkandidaten im EU-Wahlkampf. Das Prinzip finden aber nicht alle Staatschefs gut, Emmanuel Macron etwa, und versuchen es nun auszuhebeln. Wer wird sich durchsetzen?

Die Einführung europäischer Spitzenkandidaten war ein absoluter Meilenstein. Es ist einfach wichtig, dass Menschen wissen, wen sie wählen, wenn sie zur Wahl gehen. Dass sie eine Macht haben. Das hat bei der letzten Wahl sehr gut geklappt, da gab es die Wahl zwischen Jean-Claude Juncker und Martin Schulz. Schon damals gab es Widerstand bei den Staatschefs – die wollen sich diese Macht nicht aus der Hand nehmen lassen.

Es ist total traurig, dass bei den Konservativen der eigene Kandidat hinter vorgehaltener Hand schon wieder hinterfragt wird, dass andere Namen kursieren, und es ist noch tragischer, dass die Liberalen ganz ausgeschert sind. Die haben jetzt ein Spitzenteam aufgestellt und haben ausdrücklich gesagt, dass sie damit das Spitzenkandidatensystem unterlaufen wollen. Ich halte es wirklich für tragisch, wir müssen da hart bleiben. Wir haben doch versucht, dieses Europa näher an den Bürger zu bringen, auch mit diesem Spitzenkandidatensystem.

Es läuft aber ja auf eine Pattsituation zu. Das Parlament will die Spitzenkandidaten, die Staatschefs nicht – beide Seiten sind aber bei der Ernennung des Kommissionspräsidenten involviert. Und wenn jetzt keiner von beiden zuckt?

Das ist ja in der Europapolitik oft so, dass sich verschiedene Fronten gegenüberstehen und am Ende des Tages findet man dann zueinander. Ich bin sicher, dass es am Ende auch eine Lösung geben wird. Nach meiner Wahrnehmung ist das Europaparlament da sehr entschlossen. Und ich halte das für richtig. Ich hoffe, dass wir aus den Reihen der Staatschefs auch an der einen oder anderen Stelle Rückenwind bekommen.

"Ich finde es nicht gut, dass die Briten an der Europawahl teilnehmen"

Wie groß sind Frans Timmermans' Chancen, EU-Kommissionspräsident zu werden?

Die Chancen beider Spitzenkandidaten sind gut verteilt, würde ich sagen. Dass die Briten nun mitstimmen, bringt noch mal neue Bewegung rein. Labour ist ja in der sozialdemokratischen Fraktion verankert, die Torys aber nicht bei den Konservativen.

Das heißt, Sie finden es ganz gut, dass die Briten noch einmal an der Europawahl teilnehmen?

Ich finde es nicht gut. Ich habe das auch abgelehnt, weil man das nur ganz schwer vermitteln kann. Ich war überrascht von der Entscheidung. Aber rechtlich ist es nun mal so, wenn sie zum Zeitpunkt der Wahl noch Mitglied in der Europäischen Union sind, dann müssen sie mitstimmen. Weil ja der Ausgang noch nicht klar ist. Es kann ja immer noch passieren, dass sie doch drin bleiben.

Aber der sozialdemokratischen Fraktion kommt das wohl nicht ungelegen.

Tatsächlich, aber auch Frans Timmermans fand es eine irre Idee, dass die noch mal mitstimmen. Ich auch, Martin Schulz – bei uns haben sich alle dagegen ausgesprochen. Wir haben da nicht nach Kalkül entschieden. Entschieden haben das die Konservativen und die Liberalen. Dann ist das jetzt eben so, aber dann dürfen sie sich auch nicht beschweren.

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