Die von der Ampel-Koalition eingeführte Reform des Bundeswahlgesetzes ist in Teilen verfassungswidrig. Das urteilte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Mehr aktuelle News

Das Bundesverfassungsgericht hat die Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition zum Teil korrigiert. Die Karlsruher Richter kippten in ihrem am Dienstag verkündeten Urteil die beschlossene Aufhebung der Grundmandatsklausel.

Nach ihr zogen Parteien auch dann in der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag ein, wenn sie unter der Fünf-Prozent-Hürde lagen, aber mindestens drei Direktmandate gewannen. Dies setzte das Gericht nun vorerst wieder in Kraft, bis der Gesetzgeber eine Neuregelung verabschiedet hat. (Aktenzeichen. 2 BvF 1/23 u.a.)

Die von der Koalition aus SPD, FDP und Grünen durchgesetzte Wahlrechtsneuregelung ist seit Juni 2023 in Kraft und soll erstmals bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr angewendet werden. Mit der Reform soll die Größe des Bundestags stark reduziert werden - verglichen mit dem aktuellen Stand um mehr als 100 auf maximal 630 Parlamentarier.

Direkt gewählt und nicht im Bundestag? Gericht bestätigt "Zweitstimmendeckung"

Um das zu erreichen, hat die Koalition Überhang- und Ausgleichsmandate gestrichen. Überhangmandate fielen bislang an, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate gewann, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Sitze zustanden. Diese Mandate durfte sie dann behalten, die anderen Parteien erhielten dafür Ausgleichsmandate.

Die Ampel-Reform macht damit durch die sogenannte Zweitstimmendeckung Schluss. Entscheidend für die Stärke einer Partei im Parlament ist nur noch ihr Zweitstimmenergebnis. Wenn die Partei mehr Direktmandate gewinnt als ihr nach ihrem Zweitstimmenergebnis zustehen, gehen die direkt gewählten Kandidaten mit den wenigsten Erststimmen in ihrem Wahlkreis künftig leer aus.

Das Bundesverfassungsgericht hat diese Praxis, durch die womöglich einige Direktkandidaten trotz eines Siegs in ihrem Wahlkreis künftig nicht mehr im Bundestag vertreten sind, mit seinem Urteil nun bestätigt.

Bereits am späten Montagabend kursierte das Urteil online. Das Dokument war zeitweise auf der Internetseite des obersten deutschen Gerichts abrufbar, mehrere Medien berichteten darüber. Wie es zu der Veröffentlichung kam, blieb zunächst offen.

Vor allem Linke und CSU von Reform betroffen

In Karlsruhe waren gegen das Gesetz die bayerische Staatsregierung, 195 Mitglieder der Unionsfraktion im Bundestag, die Linke im Bundestag sowie die Parteien CSU und Linke vorgegangen. Zudem hatten mehr als 4.000 Privatpersonen eine Verfassungsbeschwerde eingereicht. Die Antragssteller und Beschwerdeführer sahen vor allem zwei Grundrechte verletzt: die Wahlrechtsgleichheit nach Artikel 38 und das Recht auf Chancengleichheit der Parteien nach Artikel 21 im Grundgesetz.

Das Urteil aus Karlsruhe dürften nun sowohl die Ampel, als auch die Kläger als Teilsieg verbuchen. Denn dass die Richter das Reform-Kernstück, die Zweitstimmendeckung, nicht beanstandeten, dürfte tatsächlich zu einer Verkleinerung des Bundestags führen. Überhangs- und Ausgleichsmandate gelten als Hauptgrund dafür, dass das Parlament weit über seine Regelgröße von 598 Abgeordneten gewachsen ist.

Die Regierung kann also darauf beharren, ihr Versprechen eingelöst zu haben. Entsprechend positiv äußerten sich Ampel-Vertreter nach dem Urteil. "Das Wichtigste steht nach diesem Urteil fest: Die Verkleinerung des Deutschen Bundestags ist vollbracht und verfassungsgemäß", erklärte der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende, Dirk Wiese. Es sei nun "Schluss mit Überhang- und Ausgleichsmandaten, die den Bundestag immer weiter vergrößert haben und so seine Arbeitsfähigkeit gefährdet haben".

Die Ampel halte Wort, erklärte derweil die Grünen-Fraktionsvorsitzende, Britta Haßelmann, gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa). "Der Einzug der Parteien nach ihrer Stärke ist garantiert und die Arbeitsfähigkeit des Parlaments gesichert."

Söder: Union will Reform rückgängig machen

Gleichzeitig ist das Urteil ein Sieg für die Kritiker und die Opposition. "Das ist ein klarer Erfolg für die CSU und Bayern - und eine Klatsche für die Ampel", sagte CSU-Chef Markus Söder der dpa nach der Urteilsverkündung. "Das Urteil ist eine Bestätigung in unserem Kernanliegen, der sogenannten Grundmandatsklausel. Damit ist nach menschlichem Ermessen sichergestellt, dass die CSU im nächsten Bundestag vertreten ist", sagte Söder.

Söder kündigte aber auch an, eine unionsgeführte Bundesregierung wolle die Zweitstimmendeckung wieder abschaffen. "Klar ist auch: Sollten die Wähler uns in der nächsten Regierung sehen, werden wir dieses Ampel-Gesetz umgehend ändern. Das ist für die CSU eine Koalitionsbedingung für eine nächste Bundesregierung."

Durch den geplanten Wegfall der Grundmandatsklausel stand insbesondere für CSU und Linke einiges auf dem Spiel. Bei der Wahl 2021 war die CSU, die nur in Bayern antritt, bundesweit auf 5,2 Prozent der Zweitstimmen gekommen. Würde sie bei der nächsten Wahl bundesweit hochgerechnet unter die Fünf-Prozent-Marke rutschen, flöge sie nach dem neuen Wahlrecht aus dem Bundestag - auch wenn sie wieder die allermeisten Wahlkreise in Bayern direkt gewinnen sollte.

Die Linke zog wiederum bei der letzten Bundestagswahl nur über die Grundmandatsklausel in Fraktionsstärke in den Bundestag ein. Die Partei scheiterte 2021 an der Fünf-Prozent-Hürde, gewann aber drei Direktmandate. Nach der Abspaltung des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) steckt die Linke wieder tief in der Krise. Bei der Europawahl Anfang Juni erzielte sie nur noch 2,7 Prozent.

Rückkehr zur GroKo-Reform?

Ähnlich wie Söder hatte sich die stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Andrea Lindholz (CSU) bereits vor der Urteilsverkündung geäußert. "Dass Wahlkreise nicht zugeteilt werden, ist für mich kein dauerhaft akzeptabler Zustand - das müssen wir in der nächsten Legislaturperiode ändern", erklärte sie in der Sendung "Frühstart" von RTL und ntv. Die Wahlrechtsreform der Großen Koalition (GroKo) aus der letzten Legislaturperiode sei besser gewesen, weil damit die Zahl der Wahlkreise reduziert worden wäre, sagte Lindholz. Zu diesem Modell sollte zurückgekehrt werden.

Die GroKo hatte 2020 eine zweistufige Reform beschlossen. Die erste Stufe galt bereits bei der Bundestagswahl 2021. Diese sah vor, einen gewissen Teil der Überhangmandate nicht durch Ausgleichsmandate zu kompensieren, insofern die Regelgröße des Bundestags mit 598 Sitzen erreicht wird. Die zweite Stufe sollte erst bei der kommenden Bundestagswahl 2025 greifen. Für diese sollte die Zahl der Wahlkreise in Deutschland von 299 auf 280 reduziert werden.

Die 2020 verabschiedete Reform hatte allerdings nicht bewirkt, was sie hätte bewirken sollen. Von vornherein von ihren Kritikern als "Reförmchen" verspottet, schaffte sie es lediglich, den Anstieg der Abgeordnetenzahl zu bremsen. Der Bundestag wuchs bei der Wahl 2021 von 709 auf 736 Abgeordnete - und ist damit weiterhin das größte frei gewählte Parlament weltweit. (dpa/afp/thp)

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.