- Seit Montagmorgen fließt kein Gas mehr durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 nach Deutschland. Grund dafür sind routinemäßige Wartungsarbeiten, die bis Ende Juli dauern sollen.
- Doch die Sorge: Was, wenn Putin den Gashahn zugedreht lässt? Schließlich war schon im Juni die Menge an Gas deutlich gedrosselt worden.
- Energie-Experte Hans-Wilhelm Schiffer gibt im Interview mit unserer Redaktion Antworten.
Die Pipeline Nord Stream 1 ist am Montagmorgen abgeschaltet worden. Grund sind jährlich wiederkehrende Wartungsarbeiten, die der Betreiber bereits vor längerer Zeit angekündigt hatte. Die Arbeiten an der Ostseepipeline, die mehr als 1.200 Kilometer von Russland nach Mecklenburg-Vorpommern führt, sollen bis zum 21. Juli dauern.
Bereits im Juni hatte das russische Staatsunternehmen Gazprom allerdings die Liefermenge deutlich gedrosselt – das wurde mit dem Fehlen einer Turbine begründet. Die Sorge daher nun: Russland könnte den Gashahn auch nach Abschluss der Wartung abgedreht lassen.
Herr Schiffer, derzeit wird die Leitung laut Bundesnetzagentur nur zu rund 40 Prozent ausgelastet. Sind die Ängste gerechtfertigt, dass die Versorgung ohne die Turbine nicht gewährleistet wäre?
Hans-Wilhelm Schiffer: Laut aktuellen Meldungen wird die gewartete Turbine für Nord Stream 1 aus Kanada geliefert. Technische Probleme stehen somit einer Wiederaufnahme der Gaslieferungen über die Pipeline Nord Stream 1 nach Abschluss der ab dem 11. Juli durchgeführten Wartungsarbeiten nicht entgegen.
Wohl aber andere Probleme? Könnte der "Gashahn" als politisches Instrument zugedreht bleiben?
Vonseiten der Abnehmer russischen Gases kann dies niemand seriös beantworten. Es macht auch keinen Sinn, zu spekulieren. Vielmehr müssen alle möglichen Szenarien durchgespielt werden.
Welche sind das?
Sie reichen von einem kompletten Stopp der Lieferungen aus Russland bis hin zu einer vollständigen Wiederaufnahme der Lieferungen nach der voraussichtlich am 21. Juli abgeschlossenen Wartung der Pipeline. Die Bundesnetzagentur hatte am 21. Juni verschiedene Szenarien zum Gas-Mengengerüst von Juni 2022 bis Juni 2023 veröffentlicht. Darin ist in verschiedenen Varianten durchgerechnet worden, welche Situation sich einstellt, wenn die Gaslieferungen über Nord Stream 1 auch nach Abschluss der Wartung vollständig unterbrochen bleiben oder entsprechend der Praxis bis zum 10. Juli mit 40 Prozent der möglichen Lieferungen wieder aufgenommen werden.
Mit welchem Ergebnis; was bedeutet das im Hinblick auf den anstehenden Winter?
Der entscheidende Hebel, einer Gasmangellage vorzubeugen, liegt in der Reduktion des Gasverbrauchs. Zu den Ergebnissen der Berechnungen der Bundesnetzagentur gehört: Wenn wir eine Verbrauchsreduktion von 20 Prozent erreichen, entsteht im Winter selbst dann keine Mangellage, wenn die Lieferungen aus Russland komplett ausfallen sollten. Allerdings wären die Speicherfüllstände – gegenwärtig mit Stand vom 7. Juli – 63,4 Prozent – dann im Frühjahr 2023 sehr niedrig. Es muss also alles getan werden, um eine möglichst große Einsparung an Gas zu erreichen.
Was heißt das konkret?
Zur Einsparung und zum Ersatz von Erdgas durch andere Energien bieten sich vielfältige Möglichkeiten. Im ersten Halbjahr 2022 hat sich der Erdgasverbrauch bereits um 10 Prozent im Vergleich zum Vorjahr vermindert. Ein Teil davon geht sicher auf die mildere Witterung zurück, die den Heizenergie-Bedarf gedämpft hat. In der kommenden Heizsaison ist noch deutlich mehr an Einsparung möglich. Darüber hinaus müssen die Möglichkeiten verbessert werden, zusätzlich Erdgas aus anderen Lieferquellen zu beschaffen. Dazu laufen die Bemühungen der Politik und der Unternehmen auf Hochtouren. Die Bundesregierung hat hier schnelle Weichenstellungen vorgenommen. Dies hat es ermöglicht, dass mehrere schwimmende Flüssiggas-Terminals gechartert werden konnten.
Helfen diese Maßnahmen denn jetzt schon?
Ein Teil davon, ein bis zwei, werden bereits im Laufe des Winters vor der deutschen Küste einsatzbereit sein. Die Schiffe selbst könnten schon heute eingesetzt werden. Worauf es ankommt, ist die Verbindung zwischen Schiff und landseitiger Einspeisung in das deutsche Gas-Pipelinenetz. Im Laufe des Winters erscheint ein Einsatz aber realistisch, insbesondere am Standort Wilhelmshaven. Das Terminal hat eine Jahreskapazität von 7,5 Milliarden Kubikmeter entsprechend 8,5 Prozent des deutschen Gasverbrauchs. Auch Brunsbüttel könnte im Laufe des Winters so weit sein. Dort wird noch eine Pipeline-Anbindung benötigt. Darüber hinaus hat die holländische "Gasunie“ angekündigt, dass bereits im Herbst 2022 zwei Terminals am Standort Eemshaven mit einer Jahreskapazität von acht Milliarden Kubikmeter startbereit sein werden.
Das bezieht sich alles auf die Einrichtung der nötigen technischen Infrastruktur, aber das Gas muss schließlich auch beschafft werden ...
Bereits im Zeitraum Januar bis Mai 2022 haben sich die LNG-Importe in die Europäische Union und nach Großbritannien um zwei Drittel im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum auf historische Rekordstände erhöht. Die LNG-Exporte der USA in die Europäische Union und nach Großbritannien haben sich in dieser Zeit mehr als verdreifacht. Sie machten rund die Hälfte der Gesamtimporte an LNG dieser 28 Staaten aus. Von der gesamten LNG-Exportmenge der USA entfielen etwa drei Viertel auf Lieferungen nach Europa – verglichen mit einem Drittel im Durchschnitt des letzten Jahres.
Für den Industriesektor, auf den 37 Prozent des Gasverbrauchs entfallen, plant die Regierung im Herbst Auktionen, um das Potenzial zur Senkung des Gasverbrauchs zu heben. Eine gute Idee?
Die geplante Ausschreibung von Prämien für den Verzicht auf die Belieferung mit Gas ist ein geeignetes marktwirtschaftliches Instrument, die Nachfrage der Industrie zu verringern. Von diesem Instrument könnte sofort Gebrauch gemacht werden und nicht erst im Herbst.
Wäre auch die Stromerzeugung ein Hebel?
Ja, ein erheblicher Teil des Erdgasverbrauchs, 2021 waren es 13 Prozent, werden zur Stromerzeugung genutzt. Diese Menge kann weitestgehend durch eine vermehrte Stromerzeugung aus Kohle ersetzt werden. Gesetzlich wurde bereits die Möglichkeit geschaffen: Kraftwerke auf Basis Braunkohle, Steinkohle und Öl, die bereits in die Sicherheitsbereitschaft eingestellt, nur noch als Netzreserve vorgehalten wurden oder für die gemäß Kohleverstromungsbeendigungsgesetz in den Jahren 2022 und 2023 ein Einsatzverbot wirksam wird, können bis zum 31. März 2024 zur Stromerzeugung genutzt werden. Auf die somit im Falle einer Gasmangellage zu erwartenden deutlich längeren Einsatzzeiten werden die Kraftwerke zurzeit technisch vorbereitet und gehen dafür in Revision.
Auch hier wieder die Frage: Hilft uns das bereits über den Winter?
Vor Beginn der Heizsaison werden sie auf jeden Fall einsatzbereit sein. Meines Erachtens sollten die von der Regelung betroffenen Kraftwerke so früh wie möglich, also auch bereits vor Ausrufung der Notfallstufe, zum Einsatz kommen, um einer Gasmangellage vorzubeugen. Der größte Teil des zur Stromerzeugung genutzten Gases kann durch verstärkten Einsatz von Kohlekraftwerken ersetzt werden. Lediglich in den Fällen, in denen in einem Gaskraftwerk neben Strom auch Wärme für Industrie oder Haushalte erzeugt wird, gibt es Restriktionen.
Was könnte die Politik mit Blick auf die privaten Haushalte tun?
Für die privaten Haushalte könnte ich mir vorstellen, dass die Versorgungsunternehmen einen Bonus für Minderverbrauch an Gas anbieten. In der Vergangenheit gab es Neukunden-Boni oder Treue-Boni. Das ist natürlich vorbei. Jetzt könnte ein Erdgasspar-Bonus gewährt werden, wenn der Haushaltskunde seinen Gasverbrauch in der Heizsaison 2022/2023 nachweislich um bestimmte Prozentsätze vermindert. Je größer die Verbrauchsminderung, bereinigt um einen Korrekturfaktor für die unterschiedlichen Temperaturverhältnisse im Winter 2022/23 im Vergleich zum vorangegangenen Winter, desto höher der Bonus. Der Staat könnte dabei helfen, die Versorgungsunternehmen bei entsprechend aufgelegten Programmen finanziell zu unterstützen.
Wie weit wirft uns der geplante verstärkte Einsatz von Kohlekraftwerken in der Konsequenz im Klimaschutz zurück?
Bei der Einhaltung der europäischen Klimaziele werden wir dadurch nicht zurückgeworfen. Für Kraftwerke und energieintensive Industrieanlagen besteht ein sehr wirksamer europäischer Treibhausgas-Emissionshandel. Dieses Instrument schreibt für die Summe aller einbezogenen Anlagen, und dazu gehören sämtliche Kohlekraftwerke, eine Jahr für Jahr verringerte Obergrenze an CO2-Emissionen vor. Die CO2-Emissionen von Kraftwerken und Industrie sind also gedeckelt. Die Einhaltung der europäischen Klimaziele ist insoweit nicht gefährdet.
Aber die nationalen Ziele?
Ja. Das ehrgeizige Ziel, bis 2030 eine Treibhausgas-Emissionsminderung in Deutschland von 65 Prozent gegenüber 1990 zu erreichen, kann aber trotzdem eingehalten werden. Voraussetzung ist eine Beschleunigung des Ausbaus erneuerbarer Energien, deren Anteil 2030 an der Deckung des inländischen Stromverbrauchs 80 Prozent erreichen soll.
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