Vor 30 Jahren verstarb Formel-1-Legende Ayrton Senna bei einem Unfall in Imola. Wir haben mit dem damaligen Piloten Karl Wendlinger über das Horror-Rennwochenende gesprochen.
Das Rennwochenende in Imola 1994 hat die Formel 1 nachhaltig verändert. Zunächst verstarb der Österreicher Roland Ratzenberger, am 1. Mai dann auch Ayrton Senna. 30 Jahre später spricht der frühere Sauber-Pilot Karl Wendlinger mit unserer Redaktion über das Horror-Wochenende und wie er es erlebt hat. Kurz nach Imola hatte der heute 55-Jährige selbst einen schweren Unfall, der für ihn viel verändert hat. Auch darauf blickt er zurück.
Karl Wendlinger, wie oft denken Sie heute noch an Imola 1994?
Karl Wendlinger: Immer wieder mal. Es ist 30 Jahre her, da weiß man noch zu gut, was Schlimmes passiert ist. Trotzdem: Die Zeit vergeht und ich denke von mir selbst aus nicht wirklich oft daran, weil ich genug andere schöne Erinnerungen aus der Zeit habe.
Ayrton Senna ist schon lange ein Mythos. Was war er für ein Mensch?
Er war damals einer der dominierenden Fahrer in der Formel 1. Ich als junger Fahrer habe ihn im Grunde einmal am Wochenende gesehen, das war bei der Fahrerbesprechung. Sonst haben wir nicht viel Kontakt gehabt. Aber für mich ist er durch seine Auftritte, durch seine Aura, seine Ausstrahlung und seine Erfolge, die er gehabt hat, der beeindruckendste Fahrer, den ich erlebt habe. Aber wie gesagt, rein persönlich habe ich ihn nicht groß gekannt, außer "Hallo, wie geht's?" haben wir nicht viel mehr gesprochen. Generell war er freundlich, ein offener Mensch, der sich mit anderen Leuten unterhalten und sich im Fahrerlager nicht nur zurückgezogen hat.
Und auf der Strecke? Junge Formel-1-Fans kennen ihn ja nur aus begeisterten Erzählungen der Zeitzeugen…
Auf der Strecke war er kompromisslos. Er hatte besondere Fähigkeiten. Eine hundertprozentige Fokussierung auf den Motorsport, verbunden mit einem Siegeswillen. Er tat alles dafür, erfolgreich zu sein. Ich erinnere mich: An irgendeinem Rennwochenende hat er zu seinem damaligen Teamkollegen Gerhard Berger gesagt: "Heute Nachmittag, fahre ich 1:12,4 Minuten und stehe auf der Pole-Position." Da hat Gerhard gesagt: "Das kannst du nicht fahren, das ist mit dem Auto nicht möglich." Senna hat erwidert: "Doch, ich schaffe es." Und am Nachmittag ist er 1:12,4 Minuten gefahren und stand auf der Pole. Solche Dinge, so "übernatürliche" Fähigkeiten, haben zu seinem Fahrtalent und zu seinem Ehrgeiz dazugehört.
Viele Ex-Fahrer oder Experten wagen es, einige weigern sich, die Frage zu beantworten: Ist Senna der größte Fahrer der Geschichte?
In jeder Ära hat es dominierende Piloten gegeben, vor Senna und auch nach ihm. Das waren nach ihm zum Beispiel
Sennas Tod war der traurige Tiefpunkt eines sowieso schon grauenvollen Rennwochenendes in Imola, unter anderem mit dem Tod Ihres Landsmanns Roland Ratzenberger. Konnte man mit dieser geballten Tragik rechnen?
Es ist aus heiterem Himmel passiert, denn es wurde schon damals einiges für die Sicherheit in der Formel 1 getan. Die Chassis waren fest und widerstandsfähig, die Autos haben nicht gebrannt, wenn du irgendwo "reingeknallt" bist. Auf den Strecken hat es Auslaufzonen gegeben. Ein bisschen bezeichnend war der Unfall von Rubens Barrichello am Freitag in Imola, der sehr spektakulär war. Er ist für den Rest des Wochenendes ausgefallen, aber unter dem Strich ist für die Größe dieses Unfalls eigentlich nichts passiert. Der Tenor im Fahrerlager lautete dann auch: Barrichello hat sich überschlagen, es ist aber nichts passiert, und in der Formel 1 kann im Grunde auch nicht viel passieren. Am nächsten Tag sind wir mit dem Tod von Roland Ratzenberger leider eines Besseren belehrt worden. Das ist für mich unerwartet gekommen. Aber trotzdem habe ich mich damals im Formel 1-Auto nicht unsicher gefühlt. Dass es mit dem weiteren tödlichen Unfall dann speziell in Imola so massiv war, war für mich schon überraschend.
Hat man sich vielleicht auch zu sicher gefühlt?
Ja, es ist doch oft so: Es wird durchaus was gemacht zur Verbesserung der Sicherheit. Doch erst, wenn etwas Schlimmes passiert, dann geht man auf diesen Fall ein und dann wird in diesem Bereich versucht, die Sicherheit zu erhöhen.
Wie haben Sie den Tod von Ratzenberger erlebt?
Ich saß im Auto zum Start des Qualifyings und habe auf den Monitor geschaut. Und als ich dann sah, wie das Auto austrudelte und der Kopf dabei hin und her schlug, dachte ich mir, dass das nicht gut aussieht. Kurz danach ist Peter Sauber zu mir gekommen und hat gesagt, dass das Qualifying beendet sei. Dann habe ich mir vorstellen können, dass gerade etwas Schlimmes passiert ist. Aber ich habe versucht, das alles wegzuschieben. Ich habe den Unfall gesehen, ich bin davon ausgegangen, dass er möglicherweise tot ist. Aber ich habe gedacht: "Nein, ich will das nicht, dass das passiert ist." Es muss zwar weitergehen, aber du kannst dich dann nicht mehr auf die eine Sache alleine konzentrieren, sondern sofort kommen Leute, die fragen: "Hast du das gesehen? Was glaubst du, was passiert ist? Wie geht es dir?" Dann der Nächste, dann wieder der Nächste, wieder Fragen, auch vom Renningenieur. Es prasselt viel auf dich ein. Du musst dich dann ein bisschen zurückziehen und machst dir Gedanken. Das alles bewirkt, dass du aufgewühlt bist und dass du gar nicht mehr genau weißt, was als Nächstes passiert.
Wie war es, sich nach dem Tod wieder ins Auto zu setzen?
Wir sind das Qualifying nicht mehr gefahren. Ich kann mich erinnern, dass ich am Nachmittag vom Team offiziell die Nachricht bekommen habe, dass Roland tot ist. Ich war natürlich schockiert. Im Endeffekt hat es nur zwei Fragen gegeben: "Fahre ich weiter? Oder fahre ich nicht weiter?" Für mich war schnell klar, dass ich weiterfahre. Und dann habe ich eben versucht, mich wieder zu fokussieren und auf den Rest des Wochenendes zu konzentrieren.
Warum war das so klar, dass Sie weiterfahren?
Das kann ich gar nicht genau sagen, aber das war sofort mein Gefühl: Ich fahre weiter.
Wie haben Sie die Stimmung im Fahrerlager erlebt?
Aufgewühlt, durcheinander. Die Leute waren schockiert. Jeder, dem ich über den Weg gelaufen bin, hat mich darauf angesprochen. Gefragt: "Was sagst du dazu, was meinst du?" Ich habe versucht, mich den Fragen zu entziehen, weil ich sie nicht beantworten konnte. Man hat geglaubt, dass man sich in der Formel 1 in einem sehr sicheren Bereich bewegt. Es war für alle eine schockierende Gewissheit, dass dann doch ein Fahrer gestorben ist.
Haben sich die Fahrer danach nochmal zusammengesetzt oder ist das weitere Programm ganz normal abgespult worden?
Es gab am Sonntagvormittag eine offizielle Fahrerbesprechung, wie immer. Da gab es eine Schweigeminute. Du fühlst dich schrecklich und du weißt gar nicht mehr groß, was du dazu sagen sollst, du weißt aber, dass du weiterfahren willst.
Wie haben Sie den Senna-Unfall erlebt?
Live habe ich den Unfall gar nicht gesehen. Ich bin in die Tamburello-Kurve gefahren, habe die Gelbe Flagge und den Williams gesehen, und dann ist das Rennen schon unterbrochen worden. Zunächst sagte mein Renningenieur mir, dass Senna den Unfall hatte, er aber wohl okay sei. Das hat er entweder gesagt, um mich zu beruhigen, oder weil er diese Information tatsächlich so hatte. Die einzige Informationsquelle, die die Teams damals hatten, waren die Monitore an der Boxenmauer. Und ob die dann weitergelaufen sind, ob man wirklich gesehen hat, was passiert ist, weiß ich nicht. Irgendwann haben wir den Hubschrauber starten sehen. Da habe ich schon gedacht, dass das kein gutes Zeichen ist. Dann hieß es aber, dass das Rennen in zehn Minuten weitergeht. Also bin ich wieder ins Auto, hab den Helm aufgesetzt und weiter ging es.
Wie haben Sie dann von seinem Tod erfahren?
Eigentlich gleich nach dem Rennen. Im Parc fermé hat ein Journalist gesagt, dass es einen Verletzten vom Sauber-Team in der Boxengasse gab. Da soll ein Rad durch die Gegend geflogen sein. Dann bin ich in die Box, sah sehr betroffene Gesichter, und habe nur gedacht: "Was ist mit unserem Mechaniker?" Da haben sie mir dann erzählt, dass Senna tot ist.
Haben Sie das in dem Moment realisieren können?
Nein. Ich konnte es nicht wirklich realisieren. Die Emotionen spielten verrückt. Ich war sowieso niemand, der seine Emotionen oder Gefühle zeigen konnte. Das habe ich alles in mich "reingefressen". Im Kopf ging es hin und her. Wieder sind viele Leute gekommen, haben auf mich eingeredet und ich wusste eigentlich gar nicht mehr, wie ich meine Gedanken sortieren sollte. Dann habe ich mit den Leuten, mit dem Team gesprochen und versucht, die Ruhe zu bewahren. Ich war schockiert und dachte: "Das darf alles nicht wahr sein." Ich wusste aber auch, dass ich leider nichts mehr dagegen tun konnte.
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Wie haben Sie das damals verarbeitet?
Gar nicht. Und das war ein bisschen mein Problem. Es war geplant, am Dienstag und Mittwoch in Imola zu testen. Das hat aber nicht stattgefunden, weil die Strecke gesperrt war. Dann wurde entschieden, zum Testen nach Le Castellet zu gehen. Und das habe ich dann gemacht. Ich bin danach noch zum Begräbnis von Roland Ratzenberger nach Salzburg gefahren und direkt im Anschluss wieder zurück nach Monaco. Dann kam schon die Anreise für das nächste Rennen. Außer mit ein paar Freunden habe ich nicht groß darüber gesprochen. Und diese Gespräche kann man nicht unbedingt als Therapiegespräche bezeichnen. Es hat wie gesagt nur zwei Möglichkeiten gegeben: Entweder man fährt weiter oder man fährt nicht weiter. Und wenn man sich entscheidet weiterzufahren, dann muss man sich relativ schnell wieder auf das Renngeschehen konzentrieren.
Was hat dieses Wochenende mit der Formel 1 gemacht?
Die Medienwelt war natürlich aufgewühlt, berichtete negativ. Aber der damalige Fia-Präsident Max Mosley hat sofort entschieden, dass die Sicherheit nochmals verbessert werden muss. Für die beiden Betroffenen kam das zu spät. Aber ich glaube, dass die Unfälle vielleicht erst passieren mussten, damit man aus der Normalität herauskam und man versucht hat, das Thema Sicherheit weiterzuentwickeln und zu optimieren.
Und was haben die Geschehnisse mit Ihnen gemacht?
Wie gesagt, ich habe relativ schnell entschieden, dass ich weiterfahre und habe alles andere dadurch möglicherweise verdrängt und in mich hineingefressen. Aber eigentlich hat es, außer dass ich traurig war und dass ich natürlich gedacht habe, dass das alles nicht wahr sein darf, nicht viel für mich persönlich verändert.
Doch kurz nach Imola hatten Sie Ihren eigenen Unfall in Monaco…
Das Letzte, an das ich mich bis heute erinnere, ist das Zu-Bett-Gehen am Mittwochabend. Das erste Monaco-Training war damals am Donnerstag, und da hatte ich den Unfall, bei dem ich in der Hafenschikane die Kontrolle über das Auto verlor und in die Begrenzungsmauer fuhr. Das Erste, an das ich mich danach wieder erinnere, ist, dass ich im Krankenhaus in Innsbruck aufgewacht bin. Davor war ich in Nizza auf der Intensivstation, da haben sie mich langsam munter werden lassen nach 19 Tagen im Koma. Dann bin ich nach Innsbruck überstellt worden. Und nach rund einer Woche dort habe ich das erste Mal bewusst etwas mitbekommen.
Wie schwerwiegend war der Unfall?
Ich hatte ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Und laut Aussagen der Ärzte damals in Nizza war es schon so, dass in der ersten Woche des künstlichen Komas Lebensgefahr bestand.
Erst Imola, dann Ihr Unfall: Wie sind Sie damit umgegangen, auch was Ihre Karriere anging?
Im Innsbrucker Krankenhaus habe ich fleißig an der Reha teilgenommen, weil ich mir gedacht habe: "Je schneller ich da rauskomme, desto schneller kann ich wieder in einem Rennauto sitzen." Man denkt sich, dass man unbedingt ein Comeback schaffen möchte. Man möchte versuchen, fit zu werden, um so schnell wie möglich wieder zurück in die Formel 1 zu kommen. Das ist mir auch bis zu einem gewissen Grad gelungen.
Wie war es, als Sie das erste Mal wieder in einem Formel-1-Auto Platz genommen haben?
Es war ein tolles Gefühl. Es waren ungefähr acht oder neun Runden im Trockenen, dann hat es angefangen zu regnen. Aber es ist mir alles relativ einfach von der Hand gegangen. Ich hatte keine Angst, hatte keine negativen Gedanken, ich habe mich eigentlich nur gefreut, dass ich wieder zurück bin.
Sie mussten trotzdem wenig später die Formel-1-Karriere beenden. Wie sehr haben Sie damit gehadert?
Ich wollte 1994 unbedingt das Comeback schaffen. Es hätte mich schwer getroffen, wenn ich das nicht geschafft hätte. Ich bin 1995 zwar noch sechs Rennen gefahren, habe aber einfach gemerkt, dass ich nicht so weit bin, um in der Formel 1 wieder Top-Leistungen zu erbringen. Ich habe Konzentrationsschwierigkeiten gehabt. Ich habe Schwierigkeiten gehabt, das ganze Können abzurufen, es ging einfach nicht, ich war auch zu langsam. Dann bin ich schließlich ausgetauscht worden. Ich muss dazu sagen: Beim Finale in Adelaide bin ich in einem freien Training in die Mauer gefahren. Da war für mich schon klar, dass es vorbei ist. Das hat mir niemand mehr sagen müssen. Ich habe in meinem Leben nie Probleme damit gehabt, Dinge zu beenden, wenn ich gemerkt habe, dass die Zeit dafür gekommen ist. Ich bin dankbar, dass ich Formel 1 fahren konnte und habe mich nach Australien schnell wieder auf die Suche gemacht nach einer neuen Möglichkeit. Es sollte einfach anders weitergehen.
Über den Gesprächspartner
- Karl Wendlinger war von 1991 bis 1995 in der Formel 1 aktiv, für Leyton House, March und Sauber absolvierte er 41 Rennen. Nach seinem Unfall war zwar seine Laufbahn in der Königsklasse bald beendet, nicht aber seine Karriere als Rennfahrer. So war der heute 55-Jährige unter anderem in der DTM und FIA-GT-Meisterschaft unterwegs.
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