"The offside laws need a rethink", findet nicht nur Gary Lineker, ehemaliger englischer Nationalspieler und heute Fernsehkommentator. Der VAR macht sehr knappe Abseitsentscheidungen technisch möglich, doch die Dauer und "Forensik" (UEFA-Präsident Aleksander Ceferin) sind vielen Clubfunktionären und Fans ein Dorn im Auge.
Vorschläge für eine schnellere Abseitserkennung reichen von nur maximal zehn Sekunden Überprüfung bis zu dickeren kalibrierten Linien für Angreifer. Die neue Offside Technology, die unter anderem derzeit in der Champions League der Männer als auch demnächst bei der WM in Katar eingesetzt wird, verschafft Abhilfe – so hofft man. Sie ist aber bewusst halbautomatisiert, da sie nur eine potenzielle Abseitsstellung erkennt. Doch nicht jede Abseitsstellung ist auch strafbar. Schiedsrichter müssen weiterhin überprüfen,
- ob ein Eingreifen in das Spiel vorliegt (aktives Abseits),
- in welcher Spielhälfte die Abseitsstellung stattfindet,
- ob der Ball von einem Gegner oder einer Gegnerin kommt und
- ob ein Einwurf, Abstoß, Eckstoß, Freistoß oder ein deliberate play vorliegt.
Und deshalb ist die Abseitstechnologie nur "halbautomatisiert".
Arsène Wengers Daylight Offside
Dabei könnte der Begriff "Daylight" ähnlich missverständlich wirken wie die "T-Shirt-Linie". Achselhöhenlinie klingt nicht so schön, wäre aber verständlicher. Und auch beim Daylight Offside ist die Verwendung von "Tageslicht" im Namen keine große Hilfe für das Verständnis.
Wirklich weniger Diskussionen?
Daylight Offside ist auch bei Schiedsrichtern umstritten. Macht es das Erkennen für Assistenten wirklich einfach? Für die Mehrheit ist gewiss, dass es ähnlich wenig Effekt auf Spiel und Diskussionen haben wird wie 1990. Damals wurde in den Regeln ergänzt, dass auch Spieler auf gleicher Höhe nicht im Abseits stehen können – und nun die Verschiebung um ein paar Millimeter nach vorne?
Es verschiebt nur die Linie der Forensik: Dann werden künftig nicht Zehenspitzen vergleichen, sondern Zehenspitze und Krümmungsgrad der Ferse. Ist das wirklich sinnvoll? Klar, ein paar Tore mehr werden fallen, kann nun ein Spieler oder eine Spielerin künftig eine Schrittlänge näher Richtung gegnerisches Tor sein. Aber es werden überraschend wenige Tore mehr sein – wie 1990.
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Warum keine Reduzierung auf ein Einer-Abseits?
"Ein Spieler befindet sich in einer Abseitsstellung, wenn er […] sich in der gegnerischen Hälfte (ohne die Mittellinie) befindet und […] der gegnerischen Torlinie näher ist als der Ball und der vorletzte Gegenspieler" – so lautet das Kernstück der aktuellen Abseitsregel. Doch warum sträuben sich viele gegen eine deutliche Änderung, sodass man nur im strafbaren Abseits ist, wenn man nur noch einen Spieler vor sich hat?
Nun, da sich Torleute in der Nähe der Torlinie aufhalten, käme eine Reduzierung um eine Person einer Abseits-Abschaffung gleich. Und davor haben viele Menschen Sorge. Der Sinn des Abseits liegt doch darin, dass Spieler nicht vor dem Tor herumlungern, oder?
Zwischen Fußballromantik und Kulturpessimismus
Dieses strikte Sträuben gegen eine Aufhebung der Abseitsregel hat schon zu vielen Diskussionen geführt. Brauchen wir wirklich noch eine Abseitsregel? Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es nur übergangsweise zu dem befürchteten Herumlungern kommen wird, dann aber zur Etablierung einer neuen, für uns noch nicht denkbaren Taktik. Denn so war es bislang bei jeder größeren Abseitsänderung: 1866 machte sie überhaupt ein Kombinationsspiel möglich, 1925 Chapmans WM-System mit einem Verteidiger mehr. Oder taktisch gesprochen: Aus dem vorherigen 2-3-5 wurde ein 3-2-5.
Ein Spiel wurde in den letzten 66 Jahren mehrfach getestet, zuletzt 1987. Vielleicht würde es Sinn machen, neben dem Daylight Offside ein Spiel ohne Abseits zu testen? Es würde gleich zwei große Fliegen mit einer Klappe schlagen: Auf der einen Seite wird das Spiel lukrativer (mehr Tore, mehr Action), auf der anderen Seite wären Abseitsdiskussionen passé.
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