Der Verein hat kein Geld für Ablösesummen. Der Trainer hatte keine Profi-Erfahrung. Und die meisten Spieler waren zuvor bei anderen Vereinen gescheitert. Nun könnte Holstein Kiel mit dem Aufstieg in die Bundesliga ein Fußball-Märchen wahr werden lassen.
Wenig Geld, keine Stars und ein Mini-Stadion mit rund 11.600 Plätzen – Sportchef Ralf Becker bezeichnet Holstein Kiel gerne als das kleine gallische Dorf im milliardenschweren Fußball-Zirkus.
Sein Verein ist der Beweis, dass man auch ohne viel Geld erfolgreich sein kann.
In den Relegationsspielen gegen den VfL Wolfsburg (Hinspiel am Donnerstag, 20:30 Uhr) könnte nun sogar der Aufstieg in die Bundesliga gelingen.
Die Rollen sind allerdings klar verteilt. Die "Störche" aus Kiel sind der absolute Underdog gegen die "Wölfe" - das Fell wollen sie ihnen dennoch gerben.
6,7 Millionen gegen 60 Millionen
"In Wolfsburg verdient ein einzelner Spieler so viel wie bei uns die ganze Mannschaft", sagt Becker im Gespräch mit unserer Redaktion – und dürfte damit gar nicht so verkehrt liegen.
Holstein hat einen Spieler-Etat von rund 6,7 Millionen Euro. Das ist das zweitkleinste Budget der zweiten Liga.
Der Etat des VfL Wolfsburg soll im Falle eines Abstieges in die 2. Bundesliga immer noch bei rund 60 Millionen Euro liegen - das wäre ein historischer Zweitliga-Rekord.
Finanziell leben Holstein Kiel und der VfL Wolfsburg also ohnehin in zwei völlig unterschiedlichen Welten.
Während der VfL in den vergangenen drei Jahren rund 212 Millionen Euro in neue Spieler investiert hat, gab Holstein Kiel keinen einzigen Euro für Ablösesummen aus.
Der finanzielle Engpass macht erfinderisch: Weil Holstein Kiel keine Stars verpflichten kann, wurden Spieler geholt, die bei anderen Profivereinen als zu schlecht empfunden worden waren.
Trainer Markus Anfang spricht daher von einer Schicksalsgemeinschaft: "Viele unserer Spieler haben vorher bei großen Vereinen gespielt und konnten sich dort nicht durchsetzen. Ihre Karriere erlitt einen Knick. Aber hier haben sie es geschafft, ihr Potenzial abzurufen."
Vom Gescheiterten zum Torschützenkönig
Ein paar Beispiele:
Kingsley Schindler spielte bei der TSG Hoffenheim, durfte dort aber lediglich für die 2. Mannschaft in der Regionalliga auflaufen. Nun ist er mit zwölf Toren und fünf Vorlagen einer der besten Flügelspieler der zweiten Liga.
Und dann wäre da auch noch Dominick Drexler, der als junger Profi bei Bayer Leverkusen mitmischen durfte, laut eigener Aussage neben Spielern wie Toni Kroos und Arturo Vidal aber jeden Tag der "absolut Schwächste im Training" war.
Auch für ihn ging es zwischenzeitlich hinunter bis in die Regionalliga. Heute gilt er als der herausragende Spielmacher der Zweitliga-Saison.
Selbst Trainer Markus Anfang war kürzlich noch ein völlig unbeschriebenes Blatt. Vor seiner Unterschrift bei Holstein Kiel hatte er nie eine Profimannschaft trainiert.
Lediglich der Amateur-Verein SC Kapellen-Erft und die B-Jugend von Bayer Leverkusen standen in seinem Lebenslauf.
Niemand konnte ahnen, wie schnell er aus Holstein Kiel eine Erfolgsmannschaft formen würde.
Der erste Bundesligist aus Schleswig-Holstein?
Als er Ende August 2016 die Mannschaft übernahm, hatte Holstein Kiel einen Fehlstart in der 3. Liga hingelegt. Der Abstiegskampf drohte. Doch es kam völlig anders:
Gut acht Monate später feierte Holstein Kiel den Aufstieg in die zweite Liga.
Nun könnten die "Störche" sogar der erste Verein aus Schleswig-Holstein werden, der in der Bundesliga spielt.
Das Erfolgsgeheimnis: Im Gegensatz zum typischen taktischen Verhalten schwächerer Teams legt Holstein Kiel nicht den Fokus auf eine kompakte Defensive. Stattdessen wird flotter Angriffsfußball geboten.
"Wir wollen immer den Ball haben und das Spiel dominieren", verrät Anfang. Dies gelang eindrucksvoll: 71 Tore sind der beste Wert der zweiten Liga.
Auch gegen Wolfsburg möchten die Kieler frech aufspielen. Linksverteidiger Johannes van den Bergh sagt:
"Wir haben sicher nicht die gleiche individuelle Qualität wie Wolfsburg. Dafür aber hat Wolfsburg den Druck - und etwas zu verlieren. Wir hingegen können etwas Großes erreichen."
Fällt die Mannschaft nach dem Aufstieg auseinander?
Selbst wenn der Aufstieg gelingt, dürfte die Wunder-Mannschaft von Holstein Kiel bald in die harte Realität des Profi-Fußballs zurückgezogen werden.
Erfolge wecken nun einmal Begehrlichkeiten: Trainer Markus Anfang trainiert ab der kommenden Saison den 1. FC Köln. Sportchef Ralf Becker könnte laut Medienberichten neuer Sport-Vorstand des HSV werden.
Hinzu kommt, dass einige Leihspieler wie Torjäger Ducksch zu ihren eigentlichen Vereinen zurückkehren müssen.
Viel Geld, um die Mannschaft zu verstärken, wäre auch im Falle eines Aufstiegs nicht vorhanden. Ralf Becker verrät in der Sport Bild:
"Unser Etat für das ganze Team würde sich wahrscheinlich im Bereich eines Top-Stars bei den Bayern bewegen."
Immerhin wäre das schon einmal mehr, als ein Spieler des VfL Wolfsburg verdient.
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