Nach der Partie England gegen Serbien stand der EM-Standort Gelsenkirchen massiv in der Kritik. Von einer "Geisterstadt" und einem "Drecksloch" war die Rede, die Abreise mancher Fans dauerte mehrere Stunden. Im Interview erklärt der Verantwortliche Luidger Wolterhoff, wo nachgebessert wurde, wo sich die Stadt unfair behandelt fühlt und worauf man sich im Achtelfinale (30.) einstellen sollte.

Ein Interview

Herr Wolterhoff, Sie sind Stadtdirektor und für die Planung und Durchführung der übergeordneten Veranstalterorganisation zuständig. Zugleich sind Sie Krisenstabsleiter. Hatte die Kritik der englischen Fans am EM-Standort Gelsenkirchen schon das Ausmaß einer Krise?

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Luidger Wolterhoff: Nein, es ist keine und es wird keine geben. Nur, wenn plötzlich etwas ganz Ungewöhnliches passieren würde, mit dem keiner rechnet, würden wir überhaupt auf Krisenstab umschalten. Ansonsten bin ich Leiter des Organisationsstabs, der am Sonntag viele spontane Entscheidungen treffen muss: Wo muss noch eine Sperre aufgebaut werden? Wo muss noch eine Straßenbahn fahren? Welche Hinweise für die Fans muss es geben? Und so weiter.

Wie hart hat Sie die massive Kritik der englischen Fans getroffen, die vor allem durch ein Video viral ging?

Wir waren nicht verärgert, wir müssen mit dieser Kritik umgehen. Menschen, die uns besuchen, sind unsere Gäste. Da geht es nicht darum, den Gästen vorzuwerfen, dass sie diese Dinge nicht sagen dürfen. Es ist traurig, dass bestimmte Dinge so wahrgenommen werden. Ich halte die Wahrnehmungen an vielen Stellen für überzogen. Sie deckt sich auch nicht mit der Wahrnehmung der Menschen hier in Gelsenkirchen. Ich lebe seit 40 Jahren gerne hier. Die pauschale Kritik, die uns entgegenschlägt, ist nicht gerechtfertigt.

Gerechtfertigte Kritik

Für welche Kritik haben Sie Verständnis?

Zum Beispiel, wenn Menschen, die nach einem Fußballspiel nach Hause wollen, irgendwo lange warten müssen. Dass man dann sagt: „Ich will nach Hause, es ist schon spät“, das verstehe ich. Aber objektiv betrachtet muss man sagen: Großveranstaltungen kosten einfach ihre Zeit. Natürlich hat eine Stadt mit 270.000 Einwohnern eine andere Infrastruktur als etwa Köln. Wir haben schon nicht so viele Bahnsteige. Dass immer wieder Kritik über uns ausgeschüttet wird, das macht etwas mit den Menschen in dieser Stadt.

Was denn?

Sie wehren sich und sagen: So stimmt es nicht. Natürlich üben auch Gelsenkirchener Kritik. Und dann bemühen wir uns von städtischer Seite, gegenzusteuern. Aber viele Veränderungen brauchen Zeit. Beim Leerstand etwa: In Gelsenkirchen gibt es viel frei verfügbaren Wohnraum, bis sich das normalisiert hat, dauert es mindestens zehn Jahre. Das ließ sich nicht im Vorfeld der EM nicht mal eben lösen. Viele Städte in Deutschland haben schöne und weniger schöne Ecken. Das sehen wir ganz gelassen.

Warum die Trabrennbahn zu bleibt

Wo lässt. sich denn kurzfristig Abhilfe schaffen? Viele Fans haben sich über den tristen Bahnhofsvorplatz beschwert, den Weg zur Arena, die massiven Probleme bei der An- und Abreise.

Für das kommende Spiel wird der Fan-Meeting-Point am Heinrich-König-Platz geöffnet sein. Der befindet sich direkt in der Innenstadt und ist für 5.000 bis 6.000 Menschen ausgelegt.

Beim letzten England-Spiel in unserer Stadt wurden deutlich mehr Fans erwartet, deshalb haben wir den Fan-Meeting-Point an der Trabrennbahn eingerichtet. Insgesamt haben wir dort 10.000 Zutritte gezählt, für so viele Menschen wäre der Heinrich-König-Platz zu klein. Obwohl die Trabrennbahn eigentlich ein idealer Ort für große Mengen ist, wo 40.000 Leute gleichzeitig feiern könnten, wurde sie nicht angenommen.

Wieso? Funktioniert ihr Marketing nicht?

Nein, die englischen Fans feiern offenbar lieber in der Innenstadt. Das war auch an anderen Spielorten so. Unser Problem: Wir haben keine Kapazität in der Innenstadt für so viele Leute. Bei uns können nicht wie in Frankfurt 30.000 Fans am Main feiern. Das übersteigt unsere Möglichkeiten. Dennoch wollen wir natürlich niemanden zwingen, an einem bestimmten Ort zu feiern. Deshalb müssen wir das jetzt gut organisieren. Das kann aber eng werden.

Die Trabrennbahn bleibt also zu?

Ja, wir haben entschieden, am Sonntag den Fan-Meeting-Point an der Trabrennbahn gar erst nicht zu öffnen. Wir werden versuchen, mit 10.000 bis 20.000 Menschen in der Stadt zurecht zu kommen. Es lässt sich nicht alles vorplanen, aber wir sind auf ein paar Eventualitäten eingestellt: „Wie leiten wir die Leute wohin?“, „Wo sind noch Flächen, auf denen man sich aufhalten kann?“ Dafür gibt es Pläne, die wir situativ einsetzen.

Fehler im Vorfeld und Deutschland als Gastgeber

Wie stellen Sie denn sicher, dass die Fans nach dem Spiel auch abtransportiert werden?

Das waren beim letzten Mal unvorhergesehene Probleme: Plötzlich blieb eine Straßenbahn stehen, weil in der Bahn Unruhe aufgekommen war und Dinge beschädigt wurden. Da wo schlichtweg Verbindungen fehlten, haben wir für Sonntag weitere Fahrzeuge geordert. Wir hoffen, dass all dies die Fans diesmal überzeugt.

Hat die Kritik an Gelsenkirchen dem Image von Deutschland als EM-Gastgeber geschadet?

Es ist ein Fußballfest und das wird auch von außen so wahrgenommen. Wir haben durchaus positive Rückmeldungen von Fans, Fanverbänden und offiziellen Vertretern anderer Nationalitäten, die hier gespielt haben. Die haben sich bedankt für die gute Atmosphäre und für das, was sie hier erleben konnten. All das wird überschattet durch die Reaktion aus England und die Bilder der Serben und der Engländer, die hängen geblieben sind.

Sie meinen die Prügeleien?

Ja, es kam zwischen serbischen und englischen Fans zu gewaltvollen Ausschreitungen, 99,7 Prozent aller Fans sind zum Feiern und zum Fröhlichsein gekommen und bei ganz wenigen brennt irgendeine Sicherung durch. Leider bleiben dann genau diese Bilder hängen.

Gelsenkirchen hat auch was zu bieten

Sind die englischen Fans trotzdem willkommen?

Ja, natürlich. Wir sind nicht nachtragend oder beleidigt. Wir sind Gastgeber und jeder Gast ist willkommen. Und wenn Fans Kritik üben, etwa weil sie Schwierigkeiten mit der An- und Abreise hatten, dann nehmen wir das ernst. Nur diese Grundsatzkritik auf die gesamte Stadt bezogen, die finde ich bedauerlich.

Was darf man sich denn in Gelsenkirchen auf keinen Fall entgehen lassen?

Den Nordsternpark zum Beispiel, die sogenannte Himmelsleiter im Süden der Stadt, die alte Industriekultur und ein paar von den traditionellen Kneipen wie die Destille und das Görsmeier.

Über den Gesprächspartner

  • Luidger Wolterhoff leitet das Host City Operations Center (HCOC) in Gelsenkirchen. Er ist Stadtdirektor und Krisenstabsleiter.
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