Am Sonntag haben randalierende Anhänger des FC Lokomotive Leipzig in Erfurt einen Spielabbruch provoziert. Leipziger Hooligans stürmten das Spielfeld des FC Rot-Weiß Erfurt II und attackierten Ordner, Spieler und den Trainer. Der Skandal ist nicht der einzige in der deutschen Oberliga. Wir haben mit dem Fanforscher Gunter A. Pilz gesprochen, warum – zumindest gefühlt – gerade der Osten ein Problem hat.

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Herr Pilz, gibt es im Osten Deutschlands tatsächlich mehr Ausschreitungen oder täuscht der Eindruck?

Gunter A. Pilz: Natürlich haben wir diese Vorfälle im Westen auch, da muss man bloß an den Platzsturm der Kölner Ultras und Hooligans bei dem Spiel gegen Mönchengladbach denken oder die Vorfälle, als der VfB Stuttgart ziemlich stark gefährdet war und es Attacken gegen Spieler gab. Ausschreitungen von Hooligans sind kein alleiniges Phänomen der Mannschaften aus den neuen Bundesländern. Auf der anderen Seite muss man natürlich sehen, dass es prozentual dort dennoch sehr viel häufiger passiert, aber das hat mehrere Ursachen.

Wo liegen die Ursachen?

Zunächst einmal muss man sehen, dass diese Klubs mit der Wende erst einmal alle nach unten durchgereicht wurden, weil die reichen Westklubs die ganzen starken Spieler abgekauft haben. Und dann sind Mannschaften wie Magdeburg, Dresden und Leipzig, die zu DDR-Zeiten in der Champions- oder Europa-League spielten, plötzlich in die fünfte bis siebte Liga gewesen. Das bedeutete, dass zwar die Zuschauermenge zum Teil gleich blieb, aber schlichtweg das Geld fehlte. Die Vereine hatten dann marode Stadien und konnten sich keinen vernünftigen Ordnungsdienst mehr leisten. Genau dort liegt die Schwierigkeit: Die Problemleute, die es im Osten und Westen gleichermaßen gibt, können sich in den westlichen Hochsicherheits-Stadien schlichtweg kaum ausleben.

Woher kommen diese immensen Aggressionen der Fans?

Es ist einfach so, dass in den neuen Bundesländern junge Menschen bezüglich ihrer Perspektiven sehr viel schlechter dran sind. Und dann kommt es eben dazu, dass sie das Fußballumfeld wählen, um sich über Gewalt ein eigenes Selbstwertgefühl zu verschaffen. Denn das, was da jetzt gerade in Erfurt passiert ist, hat natürlich auch viel mit dem Ausleben von Gewaltbedürfnissen zu tun. Und einem hochgradigem Frust, der zustande gekommen ist, weil die da mit dem sicheren Gefühl aufgetreten sind, mit einem Sieg heimzufahren und damit in die Relegation zu kommen und in der dritten Liga spielen zu können. Und als die Mannschaft dann 2:0 zurückgelegen hat und der Mannschaftskapitän einen Platzverweis bekam, da hat sich der ganze Frust offenbar mit den Gewaltbedürfnissen der weiteren Zuschauer gepaart.

Geht es den Hooligans überhaupt noch um das Spiel?

Ich glaube, wenn es ihnen nicht um das Spiel gegangen wäre, dann hätten sie sicherlich nicht in dieser Situation den Sturm gemacht und für einen Spielabbruch gesorgt. Da hat sich dann der ganze Frust entladen, weil die Chance auf die Relegation schwand. Aber wenn man sich mal die Bilder anschaut, dann sieht man etwas ganz Spannendes: Zunächst einmal sind sicherlich die Frustrierten auf dem Platz, die die Spieler mindestens verbal attackieren. Die wurden aber von den Ordnungsdiensten wieder zurückgeschickt, und dann kam plötzlich die zweite Welle. Und in dieser waren dann sicherlich auch Leute, die einfach ihre Chance sahen, jetzt Gewalt ausleben zu können. Das war dann nicht mehr unmittelbar mit dem Spielgeschehen verbunden.

Wie lässt sich künftig solchen Ausschreitungen begegnen?

Letztlich genauso viel, wie man gegen Gewalt außerhalb des Fußballs tun kann. Sicherlich muss die Infrastruktur optimiert werden. Zum Beispiel mit einem geschulten Ordnungsdienst, aber der kostet eben auch Geld. Außerdem braucht man sichere Stadien, in denen eine vernünftige Fantrennung möglich ist und in denen verhindert werden kann, dass Fans einfach so auf den Platz stürmen. Und ansonsten gibt es ja komplette Konventionen, wie bei solchen Risikospielen zu verfahren ist. Wenn die alle angewandt werden, kriegt man das auch ein Stück weit in den Griff, aber mit einem gewissen Restrisiko muss man leider leben. Aber dafür haben wir ja auch die Polizei und das staatliche Gewaltmonopol, für Leute, die nicht begreifen wollen, dass sie sich mit dem Erwerb einer Eintrittskarte nicht den Eintritt in den rechtsfreien Raum erkaufen. Die gehören dann nicht ins Fußballstadion, sondern schlichtweg in den Knast.

Gunter A. Pilz ist Honorarprofessor für Sportsoziologie am Institut für Sportwissenschaft der Leibniz Universität Hannover. Er gilt seit Jahrzehnten als einer der renommiertesten Experten im Bereich Rechtsextremismus im Sport.

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