Der schlimme Rückschlag gegen eine türkische B-Elf ist schwer zu verdauen. Doch Julian Nagelsmann will seinen EM-Plan unbeirrt durchziehen.
Julian Nagelsmann hatte seinen Spielern bereits gehörig den Kopf gewaschen, als der Bus der Nationalmannschaft am Tag nach einer alarmierenden Niederlage im Regen am Olympiastadion vorfuhr. 38 Minuten lang ließen
"Wir können jetzt schwarzmalen und alles schlecht sehen, damit werden wir aber nicht weiterkommen", betonte Nagelsmann, während 50.000 türkische Fans in eine feurige Nacht tanzten. Bei Bild-TV warnte DFB-Präsident Bernd Neuendorf am grauen Morgen danach: "Wir gefallen uns oft darin, in eine toxische Situation zu kommen. Wir müssen Stärken stärken."
Löw und Flick können ein Liedchen davon singen
Stärken stärken? Wirklich? Müssten nicht vielmehr seit Langem offenkundige Schwächen beseitigt werden? Zwei Themen hatte Nagelsmann ganz oben auf die Prioritätenliste gesetzt - Emotionalität und stabiles Verteidigen. Von beidem war vor einer durchgehend pfeifenden Auswärtskulisse nichts zu sehen.
20 Gegentore kassierte die Nationalmannschaft in den zehn Spielen des Jahres. Das letzte zu null war im März gegen Peru, das letzte in einem Turnier bei der EM 2016. Auch das Phänomen, sich dem Gegner nicht mit allerletzter Gier entgegenzuwerfen, ist alles andere als neu - Joachim Löw und Hansi Flick können ein Liedchen davon singen.
Was Nagelsmann nervte
Nagelsmann nervte, dass "einige Spieler nicht die hundertprozentige Überzeugung, den Willen" hatten. Wen er ansprach, übergab er der Interpretation. Seine übertriebene Eloge auf Linksverteidiger (ja, wirklich)
Eine Stunde vor Spielbeginn war eine Aufstellung gedruckt worden, aus der eigentlich beim besten Willen keine Vierer-Abwehrkette zu bilden war. Dann sprach sich die taktische Sensation herum.
"Weltklasse, sensationell", nannte Nagelsmann die Leistung des zuletzt kriselnden Arsenal-Profis Havertz anschließend. Die Versetzung biete dem 24-Jährigen "eine sehr, sehr große Chance, ein prägender Spieler dieser EM zu werden". Denn auf dessen angestammter Position vorne sei gegen Jamal Musiala oder Leroy Sane wenig zu holen.
Experiment gescheitert - aber nicht beerdigt
Dieses gescheiterte Experiment ist also keineswegs beerdigt: Nagelsmann zieht durch. Tatsächlich war die Niederlage auch nicht zuvorderst Havertz anzulasten, der das frühe 1:0 erzielte, aber auch den umstrittenen Handelfmeter zum 2:3 verschuldete.
"Ich habe nie darüber nachgedacht, warum ein Weltklassespieler nicht auch mal auf einer anderen Position spielen kann", betonte Nagelsmann. Havertz hatte keinen klassischen Linksverteidiger gegeben, sondern in einer asymmetrischen Kette einen Schienenspieler mit Vorwärtsdrang. Nagelsmann nannte ihn einen "offensiven Joker".
Das System mit dem "Wirbelsturm" funktionierte 25 Minuten lang. "Wir saßen oben und waren begeistert", berichtete Neuendorf. "Dann wurde es unerklärlich." Oder auch nicht: Die Türkei ließ sich aufpeitschen, übernahm mit Härte und Selbstvertrauen die Kontrolle. Auch, weil Joshua Kimmich und Ilkay Gündogan im deutschen Mittelfeld einfach nicht zusammenpassen.
Gegen Österreich wird es kaum einfacher
Die große EM-Euphorie war bis in die letzte Betontreppen-Ritze zu spüren - aber auf der falschen Seite. "Wir sind ernüchtert", sagte Müller, "das Schöne ist: Es ist nicht das letzte Spiel dieser Länderspielpause. Unser Blick geht Richtung Dienstag - wir versuchen, das Ding abzuschütteln."
Gegen die starken Österreicher mit ihrem Trainer Ralf Rangnick wird es in Wien allerdings kaum einfacher werden. "Die bringen extreme Emotionalität rein", mahnte Nagelsmann. Wieder: die Leidenschaft!
"Da müssen wir auf demselben Niveau sein, jeder einzelne Spieler", forderte der Bundestrainer: "Dann wird sich die größere Qualität durchsetzen." Ansonsten werden die vier Monate bis zum nächsten Länderspiel sehr, sehr lang. (sid/mbo) © SID
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