• WM-Gastgeber Katar steht dauerhaft in der Kritik. Doch wie tickt das Emirat, wie die Leute, die dort wohnen?
  • Sportpolitik-Experte Jürgen Mittag von der Deutschen Sporthochschule Köln erklärt, worauf sich Fans und Besucher einstellen müssen.
  • Und er erklärt, warum viele Dinge aus Katar auf uns befremdlich wirken. Und umgekehrt.
Ein Interview

Herr Mittag, wenn ich Sie frage, ob ich als Fußball-Fan – von den moralischen Bedenken abgesehen - problemlos nach Katar reisen kann, was raten Sie mir?

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Jürgen Mittag: Katar ist eines der sichersten Länder der Welt, was die allgemeine Kriminalität betrifft. Das Emirat verfügt über eines der weltweit höchsten Pro-Kopf-Einkommen, es herrschen hohe Gesundheits- und Bildungsstandards und die Infrastruktur ist modern und gut ausgebaut.

Die entsprechenden Standards sind am oberen Rand des westlichen Lebensniveaus. Andere Aspekte sind jedoch problematischer, vor allem die Unterkünfte der Wanderarbeiter weisen zum Teil eklatante Missstände auf. Diese liegen aber in der Regel in für westliche Touristen nicht zugänglichen Bereichen und Wüsten-Camps. Wenn diese nach Katar reisen, erleben sie in der Regel das Leben in einer westlich-touristischen Blase.

IT-Experten haben vor zwei von Touristen zu installierenden Apps gewarnt. Wie vorsichtig muss man sein?

Das hat durchaus eine Ambivalenz: Auf der einen Seite gibt es ein hohes Maß an Sicherheit, aber eben auch ein hohes Maß an Kontrolle. Vorbehaltlos ist das nicht zu akzeptieren, es sind aber Rahmenbedingungen, die zuletzt auch bei anderen Großereignissen gegolten haben. Heutzutage ist es fast blauäugig anzunehmen, dass man bei diesen Ereignissen nicht durchleuchtet wird. Das muss man mittlerweile als Bestandteil kommerzieller, aber auch sicherheits- und gesundheitsbezogener Kontrollen hinnehmen.

Dass Katar die Apps möglicherweise auch aus politischer Sicht für andere Zwecke nutzt, ist hochproblematisch und hat dazu geführt, dass der Bundesbeauftragte für den Datenschutz dazu anrät, die beiden anstößigen Apps auf einem separaten Smartphone zu installieren.

Negative Schlagzeilen gibt es einige: Korruption, Menschenrechtsverletzungen, tote Zwangsarbeiter – der Ruf des WM-Gastgebers ist ziemlich ramponiert …

Zwei Narrative sind in dem Zusammenhang dominant: Katar hat sich diese WM durch korruptive Strategien gekauft beziehungsweise geklaut. Der zweite Kritikpunkt ist, dass Katar in seinem eigenen, islamisch-arabisch geprägten Kulturraum lebt und andere menschenrechtliche Vorstellungen als der Westen verfolgt. Die Katarer selbst sehen dies allerdings ganz anders.

Sie sind sehr stolz auf ihre Errungenschaften, weil ihnen innerhalb von zwei Generationen die Transformation von einem armen Wüstenstaat in eine moderne, postindustrielle Erlebniswelt gelungen ist. Seitens der Bevölkerung blickt man mit hohem Selbstbewusstsein auf die eigene Entwicklung, reagiert aber auch mit Kritik und Unverständnis auf die gesamte Kritik, die auf das Emirat einprasselt. Da gibt es durchaus große Spannungsfelder.

Wie hat sich Katar die aktuelle Stellung in so kurzer Zeit erarbeitet?

Katar hat seine Ressourcen wie Erdöl und das größte Erdgasfeld der Welt geschickt genutzt. Mit den Erträgen dieser Ressourcen konnte das Emirat weltweit in Unternehmen investieren und sich zu einer der dynamischsten Volkswirtschaften entwickeln. Die Mittel des katarische Staatsfonds haben dem Emirat wiederum einen starken Ausbau der Infrastruktur erlaubt, vor allem rund um Doha. Mit diesem Auf- und Ausbau setzt man unter anderem auf Touristen, Wissenschaft, Geschäftsreisende und eben auch auf den Sport. In den beiden vergangenen Dekaden haben hier bereits Dutzende von Sportgroßereignissen stattgefunden.

Wo würden Sie Katar einordnen vom Standing her?

Wenn man die makroökonomischen Daten nimmt, aber auch Dinge wie schulische oder universitäre Einrichtungen, die Qualität der Krankenhäuser, dazu Museen oder Restaurants, sind diese im weltweiten Vergleich extrem hoch anzusiedeln. Zwei Zahlen machen das unter anderem deutlich: Katar hat ein durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen von 100.000 Dollar, in Deutschland liegen wir bei 40.000 Dollar. Wenn man hingegen die Wahrnehmung als Politik- und Kulturraum betrachtet, wird das Emirat kritischer gesehen.

Katar ist modern, ist industriell fortschrittlich, ist reich – warum sind sie bei anderen Dingen so extrem konservativ-rückschrittlich?

Das ist vor allem eine religiös-ideologische Frage, die von einem ganz anderen Wertehorizont – und -verständnis ausgeht. Man muss dazu sagen: Wir sind in den OECD-Staaten teilweise auch sehr stark auf uns selbst bezogen. Diese westlichen Kriterien einschließlich der Demokratie als staatliche Organisationsform sind aber weltweit nur in einer Minderheit der Staaten und für eine Minderheit der Menschen gültig.

Es ist also sehr schwierig, unsere Standards als das maßgebliche Kriterium festzumachen. Das sieht man in der arabischen, asiatischen oder afrikanischen Welt ganz anders. Jeder beansprucht die eigenen Wertehorizonte für sich und damit, das Richtige gefunden zu haben. Dadurch, dass wir das anders sehen, können wir für uns nur begrenzt reklamieren, dass wir besser, fortschrittlicher oder moderner sind.

Wie sehen das die Menschen selbst in dem Land?

Ein Beispiel: Man wird nicht wenige Frauen in Katar finden, die zum Ausdruck bringen, dass sie in der katarischen Lebensform ein fortschrittlicheres, moderneres Leben genießen als Frauen im Westen. So fremd oder so unglaubwürdig uns so eine Aussage erscheint, charakterisiert sie aber die unterschiedlichen Wertehorizonte.

"Die westliche Haltung wird sehr kritisch gesehen."

Gibt es denn eine Annäherung zwischen den Wertehorizonten, eine Entwicklung?

Im Hinblick auf Konsum sicherlich, denn es ist interessant, dass sowohl im arabischen als auch im asiatischen Raum westliche Werte einen zentralen Lebensstandard bilden. Der Mercedes als Auto, die Uhren aus der Schweiz, oder aber auch westliche Menschen in der Werbung, die für einen westlichen Lebensstil stehen. Wenn es um politische, religiöse oder soziale Werte geht, sehe ich keine größere Annäherung, sondern eine weitere Abgrenzung.

Wenn man mit Menschen in Katar spricht, wird nicht von einer moralischen oder wertebezogenen Unterlegenheit ausgegangen, sondern es herrscht die entschlossene Vorstellung, dass das eigene Lebensmodell dem anderen überlegen ist. Die westliche Haltung wird sehr kritisch gesehen. Auf der einen Seite spielen entsprechende Werte dort eine große Rolle, auf der anderen Seite misst man aber aus kommerziellen Gründen durchaus auch mit zweierlei Maß, siehe das Bitten um eine Gasversorgung.

In Katar leben rund 2,7 Millionen Menschen, nur zehn Prozent sind Einheimische, der Rest sind Migranten. Was macht das mit dem Land?

Es fokussiert sich alles auf die Kernfamilie des Emirs, man ist miteinander verbunden, verschwägert oder verwandt. Es ist ein großes, dichtes Netzwerk, in dem entsprechende Loyalitätsverhältnisse herrschen. Im Gegensatz zu funktionalen westlichen Systemen besteht hier ein vielfach verwobenes, auf Loyalität, Ausgleich, Zuteilung, Verbundenheit gerichtetes System, in dem es auch Widerstände gibt, aber in dem alles aufs Engste miteinander verschachtelt ist. Ein hoher Lebensstandard kombiniert mit einer hohen Loyalität gegenüber und auch innerhalb der Herrscherfamilie.

Und die Migranten sind quasi abgetrennt von diesem System? Welchen Lebensstandard haben die?

Die Arbeitsmigranten bewegen sich in einer ganzen eigenen Welt. Beim Lebensstandard muss man allerdings auch berücksichtigen, dass für viele selbst ein mäßiger katarischer Lebensstandard bisweilen besser ist als der in der eigenen Heimat. Problematisch ist es vor allem für Menschen, die im Kafalla-System arbeiten. Wie zum Beispiel bei den Arbeitern auf den Baustellen oder aber auch bei Haushaltshilfen, die teilweise wie Leibeigene gehalten werden, mit rechtlich sehr eng begrenzten Freiheiten.

Katar ist eine Monarchie. Wie viel Diktatur ist das in der Realität?

Formal ist Katar eine Erbmonarchie, de facto ein autoritäres Regime. Ein Parlament oder eine politische Repräsentation durch Parteien gibt es nicht. Man hat zwar pro forma politische Reformen eingeführt, aber die vorgesehenen Wahlen auf nationaler Ebene sind bislang nicht durchgeführt worden. Das Land ist sehr stark von der großen Herrscherfamilie geprägt. Gegen deren Willen ist nichts durchzusetzen.

Wie gehen die Menschen damit um? Sie hatten Widerstände erwähnt – wie stark sind die?

Die Legitimität des Herrschers basiert auf dem Wohlstand, auf dem Erfolg. Wenn man sieht, welche Wohlstandsgewinne Katar erzielt hat, ist diese Legitimität sehr hoch anzusetzen. Wenn man in hohem Maße an dem Erfolg partizipiert, stellt man das System dahinter nicht groß infrage.

Was erwartet mich denn als WM-Tourist? Wie werden sich die Menschen als Gastgeber präsentieren?

Die Frage ist, ob man als WM-Tourist überhaupt enger mit Katarern in Kontakt kommt. Sie treten zahlenmäßig ja gar nicht so in Erscheinung. Wenn man auf sie trifft, wird man grundsätzlich offen und freundlich begrüßt. Es ist aber auch eine gewisse Zurückhaltung und Skepsis dabei, weil die Katarer gemerkt haben, dass die Fußball-Fans nicht nur positiv gestimmt sind, was diese WM angeht, und dass das eigene Land zumindest teilweise sehr kritisch berichtet wird. Da herrscht durchaus Sorge vor weiterer Kritik.

Was für eine Stimmung kann man denn generell erwarten?

Das Gros der Bevölkerung in Katar will das Land präsentieren, versteht die WM als Highlight einer jahrzehntelangen Modernisierung, aber auch eines Ringens um Einfluss in sportpolitischen Kontexten. In Teilen der Bevölkerung besteht aber auch die Sorge, dass Katar überlaufen und überbeansprucht wird. Nicht zuletzt ist man besorgt, dass die Werte und religiös-kulturellen Ursprünge verloren gehen.

Katar ohne "klassische Fußballfans"

Inszenierte Fanmärsche wie zuletzt wirken in dem Zusammenhang befremdlich und deplatziert …

Die Bevölkerungsgröße des Emirats reicht nicht aus, um eine massenmobilisierende Stadionatmosphäre zu erzeugen, was auch am Naturell der eher distinguierten Einwohner Katars liegt, die gar nicht den Habitus haben, sich als klassische Fußballfans zu profilieren. Eine gewisse Sportstimmung zu erzeugen, gelang Katar bei Sportevents in der Vergangenheit schon nur begrenzt, und das ist eine der Sonderheiten der WM.

Die Party-Atmosphäre der vergangenen Weltmeisterschaften wird selbst bei inszenierten Aktionen in den Hintergrund treten. Diese WM dürfte sowohl von außen als auch im Land selbst nicht mit Leidenschaft, Euphorie oder gar Ekstase verbunden, sondern insgesamt weitaus verhaltener und distanzierter erlebt werden.

Bei einer WM-Bewerbung ist ja immer ein Kalkül dabei. Welches Kalkül ist es bei Katar?

Das ist die Gretchenfrage und bleibt abzuwarten. Eine zentrale Absicht bestand darin, das Land auf der internationalen Weltkarte zu platzieren, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung zu forcieren, die über die WM zum Tragen kommen sollte. Das dürfte immer noch das dominante Ansinnen sein.

Das Problem, und deshalb reagierte Katar zuletzt auch sensibel, ist die Gefahr, dass das angestrebte positive Imageziel durch die anhaltende westliche Kritik immer mehr in den Hintergrund gerät. Es bleibt abzuwarten, was sich letztendlich durchsetzt: Das negative, kritische Bild oder die angestrebte positive Eigendynamik, wenn der Ball einmal rollt. Es wird ein Ringen um Bilder und Narrative.

In den Tagen vor der WM gibt es immer wieder negative Schlagzeilen und auch Skandale, zum Beispiel homophobe Aussagen. Wie wird das während des Turniers sein?

Die Erfahrungen der Vergangenheit legen nahe, dass es nicht zu Kontroversen oder gar Eskalationen kommen wird, weil Katar ein großes Interesse daran hat, dass diese WM glatt und problemlos abläuft. Dafür wird es eher Protestbekundungen in und um die Stadien geben, wobei Katar versuchen wird, dies mit moderaten Mitteln abzufangen. Der Erfolg dieser WM steht für die Gastgeber über allem.

Zum Experten: Dr. Jürgen Mittag ist als Professor für Sportpolitik an der Deutschen Sporthochschule Köln tätig. Der Titel der Professur "Sportpolitik" passt perfekt zu seinem Werdegang. "Für mich eine ziemlich perfekte Quintessenz meiner bisherigen Studien und Stationen", sagt Mittag. Das Institut des 52-Jährigen trägt den Titel eines Jean Monnet-Lehrstuhls und zielt damit auf ein besseres Verständnis der Europäischen Union ab, indem verstärkt europäische Themen in die Lehre implementiert werden.
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