• Der ehemalige Handball-Nationalspieler Christian Schwarzer spricht im Interview mit unserer Redaktion über das Corona-Chaos bei der EM in Ungarn und Slowenien.
  • Er erklärt, warum er einen Rückzug Deutschlands nicht gut gefunden hätte und welches "Problem" die Nachrücker im DHB-Team haben.
Ein Interview

Herr Schwarzer, wie sehen Sie die sportliche Lage beim DHB-Team nach dem Spanien-Spiel?

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Christian Schwarzer: Die Lage ist unverändert, weil das Spanien-Spiel nicht unbedingt gewonnen werden musste. Im Endeffekt ist nichts passiert. Aber es wäre ganz gut, wenn Spanien jetzt einfach alle Spiele gewinnt. Und das DHB-Team in allen drei Partien gegen Norwegen, Schweden und Russland drei Siege einfährt, dann reicht es für das Halbfinale.

Das deutsche Team wird von zahlreichen Corona-Fällen gebeutelt. Wie hoch ist der Erfolg des DHB-Teams einzuschätzen?

Das eine bedingt das andere. Die Spieler, die nachgekommen sind, wollte Bundestrainer Alfred Gislason teilweise bereits von Beginn an dabei haben. Es ist nochmal eine unheimliche Qualität nachgekommen und nicht nur Ergänzungsspieler. Natürlich ist die Mannschaft nicht komplett eingespielt, weil die Vorbereitung ja die anderen Spieler bestritten haben. Gegen bessere Mannschaften, wie beispielsweise Spanien, kann es dann passieren, dass diese Eingespieltheit als Stärke fehlt. Vor allem konnte die Mannschaft nicht zusammen in der Trainingshalle stehen und gewisse Abläufe einüben. Es konnte lediglich über Videostudium auf den Zimmern gearbeitet werden. Das ist natürlich eine große Herausforderung für alle Beteiligten.

Nicht nur Deutschland ist von Corona betroffen, auch andere Nationen haben mehrere positive Fälle zu beklagen. Wie bewerten Sie die EM?

Man muss es so nehmen, wie es ist, weil die Lage ist ohnehin nicht zu ändern. Auch Island haben zuletzt fünf wichtige Führungsspieler gefehlt. Insgesamt muss man den sportlichen Wert ein Stück weit hinterfragen. Natürlich ist es weiterhin eine Europameisterschaft und für die Spieler ist es eine Ehre, dabei zu sein. Aber bei den Geschehnissen vor Ort denke ich immer zuerst an die Gesundheit aller Beteiligten und hoffe, dass es bei niemandem bleibende Schäden gibt. Das Sportliche rückt für mich eher ins zweite Glied, weil Gesundheit das Einzige ist, was mit keinem Geld der Welt bezahlt werden kann.

Christian Schwarzer: "Das sind Dinge, die muss man im Auge haben"

Beim DHB-Team werden die Spieler nach ihrer Infektion noch einmal untersucht, um etwaige Folgeerkrankungen auszuschließen.

Das sind ganz wichtige Dinge, wie auch das Beispiel Alphonso Davies beim FC Bayern gezeigt hat. Eine solche Herzmuskelentzündung kann auch schnell lebensbedrohlich werden. Das sind Dinge, die muss man im Auge haben. Da wird der medizinische Staff der deutschen Mannschaft alles dafür tun, dass nicht irgendwas zurückbleibt.

Es gab auch Diskussionen darüber, ob sich Deutschland von der EM zurückziehen sollte. Die scheinen nun aber beendet. Wäre es doch besser gewesen, das Turnier abzubrechen?

Eine sehr schwierige Entscheidung und ich denke nicht, denn es ist eine sehr gute Gelegenheit, um für unsere Sportart mit einer breiten Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit Werbung zu machen. Rein sportlich wäre ein Abbruch aber durchaus denkbar gewesen, schließlich geht es nach der EM noch weiter mit einer Bundesliga-, Pokal- und Champions-League-Saison. Allerdings gibt es Regeln des europäischen Verbandes EHF, die Deutschland wohl zum Weitermachen bewegt haben. So wäre man bei einem vorzeitigen Rückzug für die nächste Europameisterschaft gesperrt gewesen, wie ich gehört habe. Doch die EM 2024 findet in Deutschland statt. Auch das wird wohl in die Entscheidung mit eingeflossen sein. Zudem hat sich die Mannschaft dafür ausgesprochen, das Turnier weiterzumachen.

Sie haben es bei der WM 2007 auch selbst erlebt: Wie schwierig ist es, "kalt" in so ein Turnier zu starten, nachdem man nachnominiert wurde?

Ganz "kalt" sind die Spieler nicht, weil sie zum Großteil bereits wieder mit ihren Vereinen trainiert haben. Aber die Vereinstrainer haben derzeit andere Schwerpunkte als die Nationalmannschaft in ihrem Trainingsplan, zum Beispiel athletische Grundlagen. Das Schwierige ist also, dass die Spieler zwar im Training waren, aber nicht im richtigen Training für den Wettkampf bei einer Europameisterschaft. Bei der EM pendeln die Spieler aktuell nur zwischen Zimmer und Spiel, das ist dann noch einmal eine ganz besondere Situation.

Über die Person: Christian Schwarzer ist ein ehemaliger Handball-Nationalspieler, der als Kreisläufer beim TV Niederwürzbach, FC Barcelona, TBV Lemgo und bei den Rhein-Neckar Löwen spielte. Für Deutschland bestritt er 319 Länderspiele und feierte mit dem WM-Titel 2007 seinen größten Erfolg.

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