Das 26:24 gegen Island zum Auftakt der Hauptrunde bei der Heim-EM war für die deutschen Handballer ein Charaktertest. Und womöglich äußerst wertvoll für das weitere Turnier.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Alfred Gislason war schon wieder zu Scherzen aufgelegt. Der Bundestrainer hatte zuvor gelitten, mitgefiebert und gebangt, für den 64-Jährigen war es eine emotionale Achterbahnfahrt. Wie viele graue Haare sind nach dem 26:24-Sieg der deutschen Handballer zum Hauptrundenauftakt gegen Island hinzugekommen? "Jede Menge", lachte Gislason. "Ich glaube, ich werde morgen aufstehen und komplett weiß sein."

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Die Erleichterung war dem Isländer nach dem hart umkämpften, aber extrem wichtigen Sieg gegen seine Landsmänner in den Katakomben der Kölner Lanxess Arena deutlich anzumerken. "Das Spiel war sehr anstrengend. Und es war sehr eng", brachte er es auf den Punkt: "Deshalb bin ich sehr erleichtert und sehr stolz auf meine Jungs."

Besonders stolz war Gislason auf seinen Torhüter. Andreas Wolff war mal wieder derjenige, der das Team trug, mit seinen Paraden antrieb und im Spiel hielt. Als der 32-Jährige in der Schlussphase zwei Siebenmeter hielt, explodierte die Stimmung in der Halle endgültig. Wolff ist ein Phänomen, im Tor, aber auch im Umgang mit dem Hype um seine Person bei diesem Turnier nach den bislang überwiegend sehr starken Leistungen. Denn während er nach den Paraden die ganze Anspannung, das Adrenalin und die Freude herausschreit, analysiert er unmittelbar nach der Partie den Auftritt beeindruckend nüchtern und unaufgeregt.

Wolff ist die Lebensversicherung

"Andi war phänomenal. Mit Niklas Landin ist er momentan der beste Torhüter der Welt", sagte Gislason. "Von einem anderen Stern" sei das gewesen, sagte Kapitän Johannes Golla stellvertretend. In dem Tenor zogen sich die Lobeshymnen durch die gesamte Mannschaft. Mit seinen Taten habe er die Arena "zum Explodieren" gebracht, ergänzte Golla: "Andi hält uns mit im Turnier. Er ist sowas wie unsere Lebensversicherung und momentan unser wichtigster Mann." Und Wolff? Gab das Lob artig zurück. "Insbesondere die Moral der Mannschaft hat das Spiel gewonnen. Wir haben nie die Nerven verloren", sagte Wolff. Seine Leistungen – zwölf Paraden und 33 Prozent gehaltene Bälle - seien "auch begünstigt durch die Abwehr. Ein Torhüter ist nur so gut wie seine Defensive".

Glanzpunkte setzte die DHB-Auswahl in dem schwierigen und aufwändigen Spiel gegen giftige Isländer tatsächlich vor allem in der Abwehr. Die Isländer bestachen ihrerseits mit einer sehr aggressiven Defensive, die immer an der Grenze zu einer Zwei-Minuten-Strafe agierte und das DHB-Team regelmäßig zu Fehlern zwang. Dazu war der Angriff um Spielmacher Juri Knorr in der ersten Halbzeit "nicht komplett bei 100 Prozent", bemängelte Gislason. "Wir haben ein bisschen mit der Handbremse gespielt."

Knorr mit einem schwachen Spiel

Vor allem Knorr kam nicht gut damit zurecht, dass die Abwehr der Isländer ihre Aufgaben offensiver interpretierten und den 22-Jährigen früher attackierten als die Gegner zuvor. Das sorgte dafür, dass Knorr und Co. nicht wie zuletzt Bewegung in den Rückraum bekamen. Es war offensiv oft passiv, zäh und inkonsequent, wenn das Tempo fehlte oder aber die Kreativität. Und immer wieder ließ das Team Großchancen liegen, scheiterte an den wie Wolff stark spielenden Torhütern. Für das deutsche Team wurde die Partie so zu einem echten Stress- und Charaktertest.

Das gilt auch für die Symbiose mit dem Publikum im "Mekka des Handballs". Denn die Fans benötigten ebenso wie die Mannschaft ihre Eingewöhnungszeit, "die Halle hat auch mitbekommen, dass wir zunächst nicht gut genug waren. Und da war die Halle relativ still", sagte Gislason. Doch in der zweiten Halbzeit wurde es immer lauter, und spätestens bei Wolffs gehaltenen Siebenmetern "knallt die Halle", so Golla. "Und das brauchen wir einfach. Dafür sind wir selbst verantwortlich, denn es setzt unglaublich viel Energie frei, vor allem in der entscheidenden Phase".

"Sie haben so viel Charakter gezeigt"

In dieser Phase ging es hin und her, es war nervenaufreibend, es war ein Vorgeschmack auf die weiteren Aufgaben gegen Österreich (20. Januar), Ungarn (22. Januar) und Kroatien (24. Januar). Und genau diese Erfahrungen könnten seiner relativ unerfahrenen Mannschaft "extrem viel geben für die Zukunft", glaubt Gislason. Zum einen für das Selbstvertrauen für den weiteren Turnierverlauf, zum anderen aber auch die "Gewissheit, dass sie solche Stresssituationen auch überstehen kann. Sie haben so viel Charakter gezeigt - das kann diese Mannschaft einen Schritt nach vorne bringen".

Diesen Schritt wird das DHB-Team wohl bereits für die nächste Aufgabe am Samstag brauchen. Denn Überraschungsmannschaft Österreich (3:1 Punkte) hat einen Lauf und erlebt einen regelrechten Hype in der Heimat. "Die Österreicher haben bis jetzt sehr gut gespielt, sie haben die Spanier nach Hause geschickt", warnte Gislason. Und am Donnerstag zum Hauptrunden-Auftakt gegen Ungarn gewonnen. Der Bundestrainer erwartet "ein ähnliches Spiel" wie gegen Island. "Wir wissen, dass jedes Spiel ein Endspiel ist", betonte er angesichts von 2:2 Punkten: "Wenn unser Traum das Halbfinale ist, müssen wir die nächsten drei Spiele gewinnen. Bei einer Niederlage gegen Österreich wäre dieser Traum vorbei." Graue Haare wären dann wohl Gislasons kleinste Sorge.

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