Einer der jüngsten Großmeister, jüngster Kandidatenturniersieger und bald vielleicht jüngster Weltmeister? Einiges spricht dafür, dass der 18-jährige Inder D. Gukesh nach seiner beim WM-Kampf gegen Titelverteidiger Ding Liren in die Fußstapfen von Magnus Carlsen treten könnte.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Julian Münz sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es ist nicht so, dass das Kandidatenturnier für die Weltmeisterschaft 2024 einen Mangel an Favoriten gehabt hätte. An allererster Stelle war da natürlich Ian Nepomnjaschtschi, der bei den letzten beiden WM-Kämpfen jeweils knapp am Titel gescheitert war, aber auch der US-Amerikaner Fabiano Caruana, der 2018 in einer rekordverdächtigen Remis-Serie an Magnus Carlsen verzweifelte. Als dritter Favorit lauerte Hikaru Nakamura, in Pandemie-Zeiten einer der bekanntesten Schach-Livestreamer und zum Zeitpunkt des Turniers Drittplatzierter der Weltrangliste.

Mehr News zum Thema Sport

Doch plötzlich mischte da auch der 18-jährige Dommaraju Gukesh im Konzert der Großen mit. Es war - für sein Alter wenig verwunderlich - sein erstes Kandidatenturnier. Als einer von drei Spielern vertrat er Indien, das den Weltmeistertitel mit einer Vielzahl an Top-Talenten ins Land zurückzuholen will. Gukesh galt zu Beginn nicht mal wirklich als Favorit unter seinen Landsleuten, der auch erst 19-jährige R. Praggnanandhaa war in der Weltrangliste besser platziert.

Doch der Senkrechtstarter aus dem südindischen Chennai, wo auch der langjährige Weltmeister Viswanathan Anand herkommt, startete souverän in das Kandidatenturnier, musste nur gegen Alireza Firouzja am 7. Spieltag eine Niederlage einstecken. Gegen ebenjenen Firouzja fuhr Gukesh am vorletzten Spieltag den wohl wichtigsten Sieg ein: Eine Partie vor Ende des Turniers lag er nun in Führung, aber nur mit einem halben Punkt Vorsprung. Sowohl Nepomnjaschtschi, Caruana als auch Nakamura lagen nur knapp dahinter und hatten die Chance, an Gukesh vorbeizuziehen. Und sie alle trafen am letzten Spieltag aufeinander. Im wohl spannendsten Turnierfinale der letzten Jahre konnte Gukesh gegen Nakamura ein Remis halten, musste aber darauf hoffen, dass sich in der Partie zwischen Nepomnjaschtschi und Caruana ebenfalls kein Sieger fand. Es fand sich tatsächlich keiner, die Sensation war geschafft.

Gukesh erreichte Meilensteine in jungen Jahren

Damit wurde Gukesh der jüngste Spieler jemals, der an einer Weltmeisterschaft teilnimmt. Solche Fakten sind für ihn nichts Neues. Schach-Großmeister war der Inder bereits mit 12, als drittjüngster Spieler weltweit und früher als alle späteren Weltmeister. Den späteren Superstar Magnus Carlsen löste er auch als jüngster Spieler ab, der die Elo-Marke von 2750 durchbrach. Bei seinem ersten WM-Kampf war Carlsen übrigens schon 22, sogar der große Garri Kasparov schaffte es erst im Alter von 20 Jahren, beim wichtigsten Turnier der Schachwelt zu debütieren. Was Gukesh selbst davon hält, erklärte er in der Pressekonferenz nach dem gewonnenen Kandidatenturnier. "Ich kümmere mich nicht wirklich um all diese Rekorde, aber es ist eine nette Sache, das sagen zu können. Im Moment freue ich mich vor allem darüber, dass ich das Turnier gewonnen habe."

Nicht nur seine Abgeklärtheit, vieles, was Gukesh in jungen Jahren vollbringt, erinnert an den Norweger. Carlsen dominierte das klassische Schach schließlich so mühelos, dass er 2022 selbst sagte, seinen WM-Titel nicht mehr verteidigen zu wollen und sich seitdem mehr auf Schnellschach sowie andere Schachvarianten konzentriert. Doch ist der Inder nach seinem Überraschungserfolg nun wirklich der designierte Erbe des fast unschlagbaren Carlsen?

Fakt ist: Seit Carlsens Rückzug ist der Kampf um die Krone so ausgeglichen und spannend wie lange nicht mehr. Das Kandidatenturnier war ein erneuter Beweis dafür. Aber, argumentieren manche, sie ist eben auch nicht mehr so gut. Auch nach Carlsens Rücktritt von den WM-Kämpfen gilt es weiterhin fast als selbstverständlich, dass der beste Schachspieler der Welt aus Norwegen kommt. Bei der Weltmeisterschaft geht es aktuell de-facto nur noch um Platz zwei.

Gukesh besiegte Carlsen

Damit das WM-Turnier langfristig nicht an Wert verliert, braucht es jemanden, der den Anspruch hat, die Nummer eins zu sein. Gukesh könnte das zumindest langfristig ändern. Dafür spricht, dass er Carlsen sogar schon besiegt hat, über eine kürzere Bedenkzeit bei einem Schnellschachturnier im Oktober 2022 konnte er den Norweger überraschend bezwingen. Er war zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt - natürlich der jüngste Spieler, dem ein Sieg gegen den damaligen Weltmeister gelang.

Und auch im WM-Kampf gegen den Chinesen Ding Liren werden Gukesh gute Chancen gegeben, Weltmeister zu werden und erneut Geschichte zu schreiben. Das liegt gar nicht unbedingt an seiner eigenen Stärke, sondern am Titelverteidiger selbst: Liren tauchte nach seinem WM-Sieg lange Zeit ab und spielte in den letzten Monaten kaum auf hohen Niveau. Gegenüber der "Taz" erklärte er, er hatte mit mentalen Problemen zu kämpfen.

Trotzdem: Noch ist Gukesh nicht Weltmeister. Die Frage ist, wie er selbst mit dem Druck umgeht, jetzt im Rampenlicht zu stehen und die Schach-Hoffnungen des bevölkerungsreichsten Landes der Erde erfüllen zu müssen. Für Indien ist das Duell bei der Schach-WM schließlich auch ein wichtiges Prestigeduell gegen China, zum ersten Mal kommt es auf dieser Bühne zu einem WM-Kampf zwischen Spielern dieser beiden Länder.

Sollte es nicht klappen, stehen hinter Gukesh bereits viele Jungstars bereit, die ebenfalls in die Weltspitze streben. Die meisten davon sind ebenfalls noch unter 20 und haben den Großteil der Karriere noch vor sich - darunter mit Vincent Keymer übrigens auch ein deutscher Spieler. Will Gukesh also wirklich der unbestrittene neue Star der Schachwelt werden, hat er noch ein paar Rekorde vor sich.

Verwendete Quellen

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.