Der sensationelle Sieg über Schweden lässt Deutschlands Eishockey-Cracks von der ersten Medaille seit 42 Jahren träumen. Aber wie konnte Marco Sturms Team aus dem Nichts bis ins Halbfinale stürmen - und was ist jetzt noch alles möglich?
Es gab diese Momente, da wurden die Eishockey-Fans in Deutschland nochmal an das größte Drama der Geschichte erinnert.
An Peter Draisaitls Penalty-Schuss, der den Puck durch die Schoner des Goalies zwängte, an die kullernde Scheibe, die sich aufstellte und dann wie von Teufelshand dirigiert auf der Torlinie liegen blieb.
Es war das Viertelfinale des olympischen Eishockeyturniers 1992 in Albertville. Es war eine deutsche Glanzleistung an diesem Tag gegen turmhoch favorisierte Kanadier, den Rekord-Weltmeister.
Deutschland lieferte eines jener Spiele, das es nur alle zehn Jahre einmal gibt und am Ende fehlten vier oder fünf Zentimeter, um im Penalty-Shootout die größte Sensation überhaupt zu schaffen.
Draisaitls Schuss ist zu einer Legende geworden, so wie jenes Viertelfinalspiel damals gegen die Kanadier.
Am Mittwoch hat eine deutsche Eishockey-Nationalmannschaft wieder ein legendäres Spiel abgeliefert, eine Sternstunde - diesmal aber mit dem besseren, einem glücklicheren Ende.
Das 4:3 nach Verlängerung gegen die Schweden, den aktuellen Weltmeister und einen der Topfavoriten auf Gold, hat ein paar relativ unbekannte deutsche Athleten zu den Gesichtern der Olympischen Spiele gemacht.
Deutschland hat in Pyeongchang schon viele große Momente gefeiert und Meriten gesammelt. Die deutschen Eishockey-Cracks sind aber drauf und dran, alle bisherigen Medaillengewinner in den Schatten zu stellen.
Der Sieg gegen die Schweden ist das nächste Kapitel eines Märchens, das vielleicht sogar am kommenden Sonntag erst auserzählt ist. Dann steigt das Finale im Gangneung Hockey Center.
Aber wie konnte die Nummer acht der Weltrangliste plötzlich so durch dieses Turnier fegen? Wie konnte die Sensation gegen Schweden gelingen? Und was ist dieser deutschen Mannschaft jetzt noch zuzutrauen? Eine Bestandsaufnahme.
Ist Deutschland wirklich so stark?
Das Team von Bundestrainer Marco Sturm profitiert vom Modus und von der Tatsache, dass im fernen Nordamerika ein Funktionär großen Einfluss auf das olympische Eishockey-Turnier genommen hatte.
NHL-Commissioner Gary Bettman hat für alle Spieler der besten Liga der Welt ein striktes Olympia-Verbot ausgesprochen.
Die Klubs der NHL mussten ihre Stars also nicht wie bei Weltmeisterschaften üblich abstellen - was im Umkehrschluss zur Folge hat, dass die Topfavoriten des Turniers auf ganze Heerscharen von überragenden Spielern verzichten müssen.
Deutschland fehlen deshalb natürlich auch Stars wie Leon Draisaitl, Tobi Rieder oder Tom Kühnhackl, der Verzicht auf diese eher überschaubare Zahl an Spielern ist aber nicht so extrem wie bei den Kanadiern, US-Amerikanern, Russen, Schweden, Finnen oder Tschechen.
Dazu kommt, dass der etwas eigenwillige Turniermodus ein Ausscheiden nach der Gruppenphase automatisch verhinderte.
Alle zwölf gestarteten Mannschaften kamen "weiter", die Gruppensieger und der beste Zweite war direkt fürs Viertelfinale qualifiziert, die restlichen acht Teams spielten die anderen vier Plätze in Playoffs aus.
Deutschland nutzte die Gunst der Stunde und marschierte als Dritter seiner Gruppe mit dem Sieg über Angstgegner Schweiz in die Runde der letzten Acht.
Das ist die eine Seite der Geschichte. Die andere weist bisher eine deutsche Mannschaft aus, die geradezu strotzt vor Teamgeist, Willen und Leidenschaft. Sturms Teams ist ganz sicher spielerisch das schwächste der verbliebenen vier Teilnehmer und war auch den Schweden deutlich unterlegen.
Aber obwohl Deutschland nur 24 Stunden zuvor ein brutal enges Spiel inklusive Overtime gegen die Schweiz zu spielen hatte und die Schweden stattdessen drei Tage Ruhepause hatten, hatte die Mannschaft den größeren Willen und eine bessere Mentalität als der Favorit.
Der Einzug ins Halbfinale kommt einer Sensation gleich, zumal die deutschen Spieler aus der vergleichsweise schwächeren DEL rekrutiert sind, während etwa die Schweden in der starken heimischen Liga oder in der KHL ihr Geld verdienen, dem europäischen Pendant zur NHL.
Wer sind die Stars im deutschen Team?
In Abwesenheit der NHL-Cracks haben andere Spieler das Zepter übernommen. Den einen großen Star oder Ausnahmespieler gibt es im deutschen Team nicht.
Das Kollektiv steht über allem, es wird angeführt von den Routiniers Christian Ehrhoff, Yannic Seidenberg, Patrick Reimer und Kapitän Marcel Goc.
Red Bull München stellt sieben, die Adler Mannheim stellen sechs der 25 Spieler. Damit sind zwei große Blöcke im Kader an die beiden besten DEL-Teams der letzten Jahre vergeben.
Der "heimliche Star" ist vielleicht Dominik Kahun. Der Münchener Angreifer ist der zweitjüngste Spieler im Team und spätestens nach seinen überzeugenden Auftritten gegen die Schweiz und gegen Schweden bei den zahlreichen NHL-Scouts auf den Tribünen in Pyeongchang sehr weit oben in den Notizblöcken.
Kahun bringt stocktechnisch alles mit, ist ein begnadeter Schlittschuhläufer. Körperlich fehlt es ihm noch an Masse. Das Zeug zum nächsten deutschen NHL-Spieler hat der 22-Jährige aber allemal.
Was ist jetzt noch möglich?
Bundestrainer Sturm hat nach der Sensation gegen Schweden einen bemerkenswerten Satz gesagt: Deutsche Mannschaften seien schon ein paar Mal weit vorgerückt in einem Turnier, in den Vergleichen mit den ganz Großen dann aber jedes Mal eingeknickt. "Aber dieses Mal war das Vertrauen in die eigene Stärke größer", sagte Sturm.
Das Selbstvertrauen dürfte nochmals ordentlich angewachsen sein, was für den nächsten Vergleich des David gegen einen Goliath schon mal nicht schaden kann.
Halbfinalgegner Kanada dürfte auch ohne NHL-Stars auf fast allen Positionen besser besetzt sein als die DEB-Auswahl.
Und die Kanadier, die bei großen Turnieren gewohnt sind, ohne eine Vielzahl an Stars anzutreten, können trotz einer bunt zusammengewürfelten Mannschaft immer auch eine starke Mentalität aufbauen.
Aber in einem einzigen Spiel ist alles möglich für Deutschland, das haben die Overtime-Siege zuletzt gezeigt.
Unter "normalen" Umständen wird Deutschland gegen Kanada kaum eine Chance haben, ins Finale einzuziehen, geschweige denn Gold zu holen. Aber was ist schon normal bei dieser Mannschaft?
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