Vor fast genau 30 Jahren triumphierte Michael Stich bei der ATP-WM in Frankfurt. Vor den diesjährigen Finals spricht er über einen seiner größten Siege, Olympia-Gold mit Boris Becker und die Dominanz von Novak Djokovic.

Ein Interview

Herr Stich, bevor es um Ihr Jubiläum geht, lassen Sie uns kurz über Novak Djokovic sprechen. Er steht nun bei 24 Grand-Slam-Titeln und hat gerade das Masters-1000-Event in Paris gewonnen – im Alter von 36 Jahren. Was halten Sie von seiner Leistung?

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Michael Stich: Es ist beeindruckend, er hebt sich einfach durch alles von der Konkurrenz ab. Nicht nur ist er spielerisch und körperlich stark, auch seine Einstellung zum Sport und sein Wille sind unglaublich. Was mich besonders fasziniert: Er spielt grundsätzlich sein bestes Tennis, wenn es drauf ankommt. In engen Sätzen, in Tiebreaks ist er einfach da und im Moment kaum zu schlagen.

Hätten Sie es während Ihrer aktiven Zeit für möglich gehalten, dass Spieler bald – Djokovic ist ja in den letzten Jahren nicht der einzige – bis Mitte oder sogar Ende 30 auf absolutem Top-Niveau spielen können?

Wenn mir einer gesagt hätte, dass sich die Leistungsfähigkeit der Besten so weit nach hinten verlängert, hätte ich das bestimmt nicht geglaubt. Auch was die Titel betrifft: Als Pete Sampras seinen 14. Grand Slam geholt hatte, war das schon irre. Aber dass Djokovic nun bei 24 Siegen angekommen ist, hätte ich früher nicht für denkbar gehalten.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass Profis heute länger ihr bestes Niveau halten?

Sicherlich ist die Betreuung besser, die Medizin hat Fortschritte gemacht und viele Spieler hören womöglich auch etwas besser auf ihren Körper. Außerdem spielen die meisten guten Einzelspieler im Gegensatz zu meiner Zeit kein Doppel mehr und haben dadurch insgesamt weniger Matches in den Beinen. Ein weiterer Aspekt, der mit dem Tennis an sich erst mal nichts zu tun hat, ist in meinen Augen die veränderte Reisegewohnheit. Heute sind viele Profis mit ihren Familien auf der Tour unterwegs, das gab es früher kaum. Ich bin sicher, es trägt zur grundsätzlichen Zufriedenheit und damit am Ende zur Leistungsfähigkeit bei, nicht große Teile des Jahres von seinen Lieben getrennt verbringen zu müssen.

Sie hatten mehrere schwere Verletzungen in Ihrer Karriere und mussten zwangsläufig gut auf Ihren Körper hören.

Na ja, das war auch nicht immer so. Ich habe oft nach langen Matches in der Night Session gesagt: Ich habe keinen Bock mehr auf Massage, ich will ins Bett. Und nach Verletzungen bin ich sicher auch einige Male zu früh wieder auf die Tour zurückgekehrt. Im Nachhinein hätte ich wohl den Mut haben müssen, zu sagen: Ich nehme mir jetzt eine ordentliche Auszeit zur Regeneration – und komme in einem halben Jahr oder später topfit zurück. Das habe ich aber nicht getan.

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"Es war meine Entscheidung und ich musste ja damit leben"

Dennoch haben Sie geschafft, was wenigen gelingt: auf Top-Niveau die Karriere beenden. Sie sind als Wimbledon-Halbfinalist abgetreten. Haben Sie danach je gedacht: Vielleicht wären doch noch ein paar Jahre mehr drin gewesen?

Nein, ich bin froh, dass ich mit 28 aufgehört habe. Wobei man auch sagen muss: Der Entschluss war nach dem verlorenen Halbfinale gegen Cédric Pioline in Wimbledon 1997 komplett spontan.

Auch Ihr Umfeld wusste vorab von nichts?

Nein. Es war meine Entscheidung und ich musste ja damit leben. Deswegen war mir die Reaktion im Umfeld erst einmal nicht so wichtig. Davon abgesehen denke ich nach wie vor: Den perfekten Zeitpunkt fürs Karriereende gibt es sowieso nicht. Sehen Sie sich Roger Federer an: Mit dem Wissen von heute hätte er es, von außen betrachtet, vielleicht etwas früher gut sein lassen sollen. Aber am Ende ist es seine Entscheidung gewesen und wenn er sich mit seinen letzten Karrierejahren wohlfühlt, ist das trotzdem in Ordnung.

Lassen Sie uns zurückblicken auf das Jahr 1993, das nach Titeln erfolgreichste Ihrer Laufbahn: Sie triumphierten sechsmal, Ihr Sieg bei der ATP-WM jährt sich in ein paar Tagen zum 30. Mal.

Für mich persönlich war der Wimbledonsieg 1991 noch ein Stück wichtiger als die sehr gute Saison 1993. Aber natürlich war es bei der WM in Frankfurt großartig, im Finale gegen den wohl besten Spieler der damaligen Zeit, Pete Sampras, den Titel zu gewinnen. Ich war danach Weltranglistenzweiter und habe diese Position auch eine Weile halten können.

Sie sind einer der ganz wenigen Spieler, die eine positive Match-Bilanz gegen Sampras haben. Wie sind Sie in das Match hineingegangen?

Ich habe tatsächlich immer gerne gegen Sampras gespielt – und wusste, dass er nicht besonders gern gegen mich spielte. Wir waren beide sehr aggressive Spieler, haben viel Serve-and-Volley gespielt. Er war es gewohnt, Punkte zu diktieren und den Gegnern sein Spiel aufzudrücken. Dass ich aber Kontra geben konnte und gerade bei eigenem Aufschlag selbst sehr dominant aufgetreten bin, hat ihm gar nicht gepasst. Dazu war es für mich auch eine große Motivation, mit dem Sieg in Frankfurt alle Turniere, die damals in Deutschland ausgetragen wurden, mindestens einmal gewonnen zu haben. Darauf bin ich bis heute sehr stolz.

Neben Ihren vielen Einzelsiegen waren Sie auch im Team sehr erfolgreich. Was bedeuten Ihnen die Triumphe in Davis-Cup, World Team Cup und Hopman Cup in der Rückschau?

Eine Menge. Für mich waren diese Wettbewerbe immer Gelegenheiten, aus der Einzelsportart Tennis ein Stück weit auszubrechen und Teil einer Mannschaft zu sein, die gemeinsam etwas erreichen wollte. Ich habe ja als Jugendlicher auch ganz gut Fußball gespielt und finde Mannschaftssport schon deshalb toll. Gerade der Davis-Cup war ein ganz wichtiges Karriereziel für mich, weil er damals noch einen viel höheren Stellenwert hatte als heute.

Umso schmerzhafter dürfte es gewesen sein, dass Sie im Davis-Cup 1995 gegen Russland eine Ihrer schlimmsten Einzelniederlagen erlitten haben.

Das war es, definitiv. Wenn mir vorher jemand gesagt hätte, dass ich gegen Andrei Tschesnokow bei eigenem Aufschlag neun Matchbälle vergeben würde – ich hätte mein Haus darauf verwettet, dass das nicht passiert.

"Es stimmt, dass wir nicht die besten Freunde waren"

Wie lange hat es gedauert, diese Niederlage aus dem Kopf zu bekommen?

Mir hat es für die Mannschaft unglaublich leidgetan. Aber für mich persönlich konnte ich das relativ schnell abschütteln, gerade weil es so eine abstruse Niederlage war. Dazu muss man sagen, dass wir die Begegnung ja davor schon im Doppel hätten gewinnen müssen, wo wir auch im fünften Satz mit einem Break vorne lagen. Das hätte den Einzug in das Jahrhundertfinale gegen die USA in Deutschland bedeutet. Aber es hat leider nicht geklappt. Mir ist erst vor ein paar Jahren aufgefallen, dass ich das mögliche Endspiel ohnehin nicht hätte bestreiten können, weil ich mich damals kurze Zeit später verletzt habe. Das hat die Niederlage im Halbfinale im Nachhinein ein kleines bisschen relativiert.

Einen anderen großen Titel Ihrer Karriere haben Sie dafür als Teamspieler geholt: die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen 1992 im Doppel mit Boris Becker. Niki Pilic hat später gesagt, er habe während des Turniers viel zwischen Ihnen und Becker vermitteln müssen. Wie mühsam war der Weg zu Gold tatsächlich?

Ich habe im Olympischen Dorf gewohnt, Boris nicht; wir haben uns also generell nur auf der Tennisanlage gesehen. Nachdem wir beide im Einzel schnell ausgeschieden waren, war klar: Wir müssen jetzt alles in dieses Doppel legen und persönliche Differenzen haben da keinen Platz. Es stimmt, dass wir nicht die besten Freunde waren, aber das war ich auch mit den meisten Spielern auf der Tour nicht. Aber wir haben uns zusammengerauft und dem gemeinsamen Ziel alles untergeordnet – und sind beide sehr glücklich, dass am Ende eine Goldmedaille dabei herausgesprungen ist.

Nach dem Sieg sind Sie sehr zügig abgereist und den Feierlichkeiten ferngeblieben. Dafür haben Sie medial Prügel bekommen. Bereuen Sie die Abreise im Nachhinein?

Das war ein Fehler, ja. Ich hätte allein aus Respekt bleiben und das Erlebnis mit dem Rest der Mannschaft teilen sollen.

Von diesem Ereignis abgesehen, sind Sie aber auch nach Ihrer aktiven Karriere Teamplayer geblieben und haben im Deutschen Tennis verschiedene Aufgaben übernommen. Sie waren Davis-Cup-Teamchef und lange Jahre Turnierdirektor am Hamburger Rothenbaum. Können Sie sich vorstellen, noch mal einen Posten im DTB zu übernehmen?

Ich bin grundsätzlich niemand, der irgendetwas ausschließt. Ich werde immer bereit sein, meinem Sport etwas zurückzugeben, wenn ich gefragt werde.

Welches Problem würden Sie denn in Tennisdeutschland zuerst angehen, wenn Sie heute etwas zu sagen hätten?

Es ist sicher kein Zufall, dass keine und keiner aus der deutschen Jugend in den letzten Jahren den Sprung nach ganz vorne geschafft hat. Ich war schon immer der Meinung, dass wir keine drei oder vier Leistungszentren brauchen, sondern einen zentralen Stützpunkt. Dort sollten die besten jungen Spielerinnen und Spieler zusammen leben und trainieren. Nur wenn sich die Besten täglich mit den Besten messen müssen, haben sie die Chance, sich stetig zu steigern und in den Job als Tennisprofi hineinzuwachsen. In den aktuellen Strukturen ist das meiner Meinung nach zumindest schwierig.

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