Noch nie hat wohl ein Gesangswettbewerb so viel Trubel verursacht wie der Eurovision Song Contest (ESC) 2014. Mit dem Sieg des Transvestiten Conchita Wurst aus Österreich begannen europaweite Diskussionen - von grenzenloser Empörung bis zum "Sieg über Vorurteile".
Unter den besten Postings im Netzwerk Twitter, den sogenannten Twitter-Perlen, findet sich folgende von thesismum: "Ja!!! Heute rotiert der Führer in seiner Asche. 12 Punkte aus Israel für einen österreichischen Transvestiten." Mit seinem Titel "Rise Like A Phoenix" gewann
Aufschrei nach Freiheit
"Österreich ist toleranter geworden", freute sich ORF-Generaldirektor Alexander Wrabetz. Und Vizekanzler Michael Spindelegger nannte die künstlerische Darbietung der langhaarigen Frau mit dem Vollbart "herausragend". Vor ihr hatte zuletzt
Hinter dem Bart eine Botschaft der Toleranz
Spaniens größte Tageszeitung "El Pais" bemerkte: "Sieg der Übertretung. Die Österreicherin
Die von "ABC" angesprochenen Reaktionen speziell in Russland dagegen fielen derb aus. Konservative Politiker und Kirchenkreise wetterten schon im Vorfeld des ESC, dass dessen Übertragung "eine eindeutige Propaganda für Homosexualität und geistliche Verderbnis" sei. Und nach dem Sieg Wursts twitterte Vizeregierungschef Dmitri Rogosin dies zeige "Anhängern einer europäischen Integration, was sie dabei erwartet – ein Mädchen mit Bart". Noch heftiger wurde der Nationalist Wladimir Schirinowski. Es sei ein Fehler gewesen, Österreich freizugeben, sagte er in Anspielung auf die Besetzung nach dem Zweiten Weltkrieg. "Unsere Empörung ist grenzenlos, das ist das Ende Europas", sagte er im russischen Fernsehen. "Da unten gibt es keine Frauen und Männer mehr, sondern stattdessen ein Es."
Begräbnis traditioneller Werte
An der Propaganda beteiligte sich auch ein Sprecher des Fernsehsenders "Rossija": "Das ist ein Requiem auf Europa, das ist das Begräbnis traditioneller Werte." Zugleich wurde das Thema im aktuellen Ukraine-Konflikt instrumentalisiert. So tauchten in sozialen Netzwerken Fotomontagen von Julia Timoschenko mit Bart auf, russische Duma-Abgeordnete teilten eine Fotomontage führender ukrainischer Politiker mit Wurst. Bildunterschrift auf ukrainisch: "Wir sind eine europäische Familie."
Selbst in Österreich machten konservativ kirchliche Kreise massiv Front gegen den Transvestiten. So schrieb die Internetplattform "katholisches.info", die Vertrottelungsstrategen aus Medien- und Kluturbetrieb hätten zur "Förderung der Homosexualität" Tom 'Conchita Wurst' Neuwirth zum diesjährigen österreichischen Vertreter beim European Songcontest erkoren. Und die Autorin zitiert den Kabarettisten Alf Poier: "Wenn jemand nicht weiß, ob er ein Manderl oder ein Weiberl ist, dann gehört er eher zum Psychotherapeuten als zum Songcontest."
Zur Zurückhaltung rief die "Süddeutsche Zeitung" auf: Was der Sieg Wursts bedeute, werde sich erst zeigen, "wenn alle Wortwitze über den Namen gemacht sind, wenn jede Frau sich einmal einen Bart angeklebt hat, wenn sogar bärtige Männer sich einen Bart angeklebt haben". Und auch die "Salzburger Nachrichten" dämpften die Siegeseuphorie im Land der Berge und Dome. In Fragen sexueller Ausrichtung erweise sich der Erfolg als Aufbruch in eine bestehende Realität. "Von einem Triumph der Weltoffenheit zu reden, birgt Gefahr, ja scheint voreilig." Der Popkultur werde beim ESC die Bürde auferlegt, eine Speerspitze für europäische Grenzenlosigkeit und menschliche Grundwerte zu sein, gar Frieden stiftende Wirkung zu haben, "bloß weil für einen Abend banaler Popmusik Zigmillionen europaweit vor der Glotze alles andere vergessen können".
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