Deutschland, einst das Land der Dichter und Denker, ist in einer intellektuellen Krise. Der Siegeszug des Konzepts "Internet für Alle" hat den öffentlichen Diskurs raus aus den Kneipen, Stammtischen, Kantinen und Wohnzimmern gelockt und mitten in die für jeden WLAN-fähigen Faktenallergiker quasi barrierefrei erreichbaren Social-Media-Umfelder gespült. Seither sind Kommentarspalten und Kurznachrichtendienste keine Orte zum Austausch von (gerne auch mal unterschiedlichen) Meinungen, sondern im Prinzip eine Dokumentation der Auswirkungen der erschütternden Ergebnisse der PISA-Studie in Echtzeit.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Marie von den Benken dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Um diesem Klischee Ehre zu erweisen, entwickelte sich das Diskussions-Tribunal im virtuellen Raum vergangene Woche mal wieder verstärkt zu einem Hort der meinungsstarken Argumentations-Analphabeten. Während in der echten, ernst zu nehmenden Welt nämlich Themen wie Altersarmut, Nahostkonflikt, Antisemitismus, Rassismus, rechts- und linksradikale Extremisten, Bildungsverfall, Wohnungsnot, Ukraine-Krieg oder Inflation diskutiert werden, echauffiert sich der Teil Deutschlands, der uns zuletzt die als "Stolzmonat" titulierten Weltmeisterschaften im Orthographie-Verunstalten präsentiert hatte, über die Farbe des neuen Trikots der deutschen Nationalmannschaft.

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Das kommt für die Europameisterschaft 2024 im eigenen Land überraschend Pink daher. Überraschend für echte Fans, weil bislang Grün und Schwarz als die traditionellen Grundfarben der Ausweich-Trikots galten. Überraschend für Fans der Genderfeindlichkeit, weil sie auf eine solch Hasspotenzial schürende Steilvorlage aus der DFB-Zentrale nicht vorbereitet waren.

Die Vordenker-Elite aus dem intellektuell niedrigschwelligen Pöbel-Milieu hatte sich zunächst darauf eingestellt und verlassen, ihr Hatespeech-Pflichtkontingent locker mit rassistischen Social-Media-Kommentaren erfüllen zu können, nachdem zuletzt vermehrt Spieler mit Migrationshintergrund das Trikot mit dem Bundesadler getragen hatten. Nun ging es aber unangekündigt plötzlich gar nicht mehr nur um Ausländerfeindlichkeit. Nein, jetzt kam auch noch ein ad-hoc-Bedarf an Sexismus hinzu. Wie schon häufig beobachtet, tut sich die Selbstdenker-Bubble schwer damit, nicht nur selbst, sondern gelegentlich auch mal schnell zu denken. Glücklicherweise gibt es einige einschlägige Telegram-Gruppen, in denen echte Selbstdenker sich täglich darüber informieren können, welche Meinung zu welchem Thema sie heute selbst erdacht haben werden.

NuR mÄdCheN tRaGen PiNk!!!!!!!!!!!!

Dem handelsüblichen kognitiven Privatinsolvenzler wird es dieser Tage wirklich nicht leicht gemacht. Bis vor ein paar Tagen genügte es noch, möglichst häufig darauf hinzuweisen, dass Serge Gnabry, Benjamin Henrichs, Antonio Rüdiger, Jonathan Tah, Jamal Musiala oder İlkay Gündoğan gar nicht so teutonisch aussehen wie einst Horst Hrubesch oder Günter Netzer.

Bonuspunkte gab es dabei offensichtlich, wenn man es schaffte, möglichst viele orthografische Fehler und Interpunktionskatastrophen in die dazugehörigen Postingtexte einzubauen. Seit dieser Woche ist die Aufgabe ungleich schwerer. Wenn man ein echter Patriot sein möchte, muss man den Frühling bis zur Europameisterschaft jetzt damit verbringen, so viele Varianten wie möglich zu finden, die Farbe Pink zu diskreditieren.

Da es traditionell mit der Schlagfertigkeit bei bildungsfernen Berufspöblern eher mau aussieht, verwundert es nicht, dass sich der kreative Output in erster Linie darauf beschränkte, verschiedene Synonyme für "schwul" zusammenzutragen und diese in mannigfaltiger Varianz als Schimpfwort einzusetzen. "Schwuchtel" zeigte sich dabei als beliebteste Vokabel, um dem mitlesenden Teil der Nation schnellstmöglich zu suggerieren: Hier schreibt ein Idiot.

Allein den Satz "Echte Männer tragen kein Pink" musste ich in den vergangenen 72 Stunden bereits häufiger hören als die gesamte Klaviatur von "Die Regenbogen-Diskussion war schuld am Vorrundenaus der Nationalmannschaft bei der WM 2022 in Katar". Diese anti-woke Fachanalyse wurde übrigens während der WM in Katar von ehemaligen Corona-Experten ins Leben gerufen, die rechtzeitig zur Weltmeisterschaft schnell auf Nationaltrainer umgeschult hatten.

An dieser Stelle passend mal ein Funfact zur Europameisterschaft: 40 Prozent der Arenen in Deutschland, die während der EM offizielle Spielstätten sein werden, sind Stadien von Vereinen aus der zweiten Liga. Dass die EM im Olympiastadion Berlin (Hertha BSC), der Düsseldorf Arena (Fortuna), der Arena auf Schalke (Herne-West) und dem Volkspark (Hamburger SV) stattfinden wird, macht nebenbei auch klar, dass der deutsche Fußball sich von Tradition zu Kommerz evolutioniert hat.

Fanmassen begeisternde Traditionsclubs tummeln sich im Unterhaus, während die erste Liga inzwischen durchsetzt ist mit als Marketinggag am Reißbrett entstandenen Sport-Startups. Und jetzt auch noch pinke Trikots. Da ist es nur verständlich, dass der unterdurchschnittliche Fußballfan da Angst bekommt, er könne beim Public Viewing versehentlich homosexuell werden. Eine nachvollziehbare Furcht. Zumindest, wenn man sich ansonsten auch von Gendersternchen, E-Autos oder veganen Rostbratwürstchen bedroht fühlt.

Masipanik im Kreml

Aber es gab auch etwas zu feiern diese Woche. Bei Ex-Politiker Fabio De Masi etwa, der sich kürzlich beruflich neu orientiert hatte und inzwischen hauptberuflich als Wagenknecht fungiert, knallten die Krimsektkorken. Warum? Ganz einfach: BSW-Gründungsvater Wladimir Putin, der international als Vorzeige-Demokrat geltende Feingeist und Menschenrechts-Aktivist, hat dieses Wochenende seinen Ruf als moralisch einwandfreister und meinungsfreiheitsbesessenster Politiker aller Zeiten wiederholt manifestieren können.

In der international als Vorzeige-Wahl für nicht manipulierte, freie Abstimmungsverfahren zur Bestellung einer repräsentativen Person als herrschaftsausübendes Organ geltenden Russland-Wahl holte der schönste Mann Europas (nach De Masi und Richard David Precht) überragende 88 Prozent aller Stimmen. Einen solchen Erdrutschsieg gab es zuletzt für Erich Honecker – und das ist schon länger her als der letzte Meistertitel von Schalke 04. Naja, oder beinahe jedenfalls.

Gut, De Masi fällt in seiner inzwischen offenbar reichlich vorhandenen Tagesfreizeit auch gerne mal über junge Journalistinnen wie Miriam Hollstein her, die er mit mansplainingdurchtränkten Fachanalysen seiner vornehmlich aus Putin-Bots und Hamas-Verehrern bestehenden Restfanbase zum Kommentarspaltenfraß vorwirft – aber das darf nicht überbewertet werden. Für jemanden, der aus beruflichen Gründen ein Land verehren muss, in dem kritische Journalisten spontan aus Fenstern fallen oder in Arbeitslager verschleppt werden, sind ein paar unsachliche Schmollkommentare doch wirklich harmlos. Skandalös, dass Mimosen wie Miriam Hollstein sich da so echauffieren. Wenn die etwas Ordentliches gelernt hätten, könnten die ja auch Terrorbanden und Despoten verteidigen.

Schwatz-Gelb, der BVB-Talk

Außerdem gab es – hier schließt sich der Kreis zur schönsten Nebensache der Welt – einen 3:1 Sieg von Borussia Dortmund über die vor der Saison als Geheimfavorit gehandelten Frankfurter Eintracht. Die Leistungsschwankungen von Borussia Dortmund kann man einem Nicht-Fan kaum nachvollziehbar erläutern. Die Saison läuft mal wieder so, als wäre man auf einem Taylor-Swift-Konzert, und nachdem man sich bei "Shake it Off" und "Anti-Hero" warmgekreischt hat und sich auf "Blank Space" oder "Me" freut, kommen plötzlich die Wildecker Herzbuben mit "Herzilein". Und unter uns gesagt: Da muss man durchaus traurig sein. Und Schuld daran war keineswegs nur der Wein.

Das sieht auch Neubundestrainer Julian Nagelsmann so, der aus dem einst mit deutschen Nationalspielern gespickten BVB-Kader aktuell als einzigen Dortmund-Profi Niclas Füllkrug in sein jetzt also pinkes Aufgebot berufen hat. Und der ist ja unter uns gesagt eigentlich noch ein halber Bremer.

Ehemalig zum Stammpersonal der deutschen Elf gehörende Multimillionäre wie Julian Brandt, Emre Can, Nico Schlotterbeck, Mats Hummels, Niklas Süle, Marius Wolf, Felix Nmecha, Youssoufa Moukoko oder Karim Adeyemi werden das Länderspielwochenende und damit vermutlich auch den Sommer während der EM 2024 an der heimischen Playstation verbringen.

Das ist vor allem deswegen interessant, weil sich inzwischen nicht wenige BVB-Fans zur neuen Saison einen Trainerwechsel wünschen – und dann wäre auch Julian Nagelsmann wieder auf dem Markt, dessen Vertrag beim DFB als eine Art Langzeitprojekt nur bis nach der Europameisterschaft gilt. Wie sich eine Nationalmannschaft fast ganz ohne BVB-Beteiligung gegen Frankreich verkaufen wird, das wir zuletzt schlagen konnten, als noch Tante Käthe Bundestrainer war, werde ich an dieser Stelle in der kommenden Woche verraten. Bis dann!

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