Die Sonne meint es gut an diesem Samstag. Der Wettergott flutet die Städte mit Sonne, sein Kollege der Fußballgott legt mit der Fußball-EM nach. Ein Hauch von Normalität weht durch Deutschland. Die Pandemie, die unser Leben seit 15 Monaten im Würgegriff hält, scheint ein wenig in die Knie gezwungen. Die Biergärten haben geöffnet. Das Leben kehrt in Parks und Außengastronomie zurück. König Fußball regiert. Menschen lachen, grillen, essen Eis und spüren endlich wieder Lebensfreude statt Besorgnis über Inzidenzwerte. Auch Til Schweiger ist Fußballfan. Was er an diese Woche macht, ist ebenfalls interessant. Aber dazu später mehr.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht der Autorin dar. Hier finden Sie Informationen dazu, wie wir mit Meinungen in Texten umgehen.

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Es ist früher Abend, als die Welt am Samstag für ein paar Minuten stillsteht. Einer dieser Momente, an den sich viele Menschen noch lange erinnern werden. Wenn etwas Großes passiert. Wenn sich mal wieder zeigt, dass Fußball eben nicht nur die schönste Nebensache der Welt ist. Sondern ein Echolot der Gesellschaft sein kann. Und gelegentlich, in einer Art Schmelztiegel der Emotionen, eine Zerreißprobe für die Moral. "Alles, was ich über Moral und Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball", sagte Albert Camus einst.

Selten trifft seine Einschätzung mehr zu als in der 43. Minute im Kopenhagener Parken-Stadion. Da ist die EM erst 24 Stunden alt. Dänemark trifft auf Finnland. Kein Fußball-Leckerbissen, auf den Fans hinfiebern, wie vielleicht auf Partien wie Holland gegen Frankreich, oder Brasilien gegen England.

Dennoch wird es eines der legendärsten Fußballspiele der Geschichte. Kurz vor der Halbzeit, in der 43. Minute, bricht der dänische Mittelfeldstar Christian Eriksen mitten auf dem Platz zusammen. Wohl ein Herzinfarkt. Ein vermeintlich kerngesunder Profisportler, noch keine 30 Jahre alt.

Reichweitenoptimierung durch Sensationswahn

Diese 43. Spielminute in Kopenhagen wird zu einer Blaupause unserer Gesellschaft. Sanitäter und Ärzte stürmen auf das Feld. Gleichzeitig aber auch Reporter, Fotografen und Kameramänner. Das eine, das beste oder wenigstens das erste Bild vom womöglich sterbenden Starspieler, wer kriegt es? Wer bekommt das spektakulärste, das herzzerreißendste, das schnellste Bild eines Mannes, der um sein Leben kämpft?

In jenen Sekunden offenbart sich die Abscheulichkeit des Clickbait-Journalismus in seiner unmenschlichsten Gestalt. In einer Presselandschaft jedoch, in der es normal geworden ist, WhatsApp Chatverläufe eines Kindes zu veröffentlichen, dessen Geschwister gerade vermutlich von ihrer eigenen Mutter getötet wurden, verwundert das kaum noch.

Helden werden in jenen Minuten in Kopenhagen dennoch geboren. Fotografen gehören nicht dazu. Keiner bekommt ein solches Bild. Zum Glück. Moral, Menschlichkeit und Kameradschaft obsiegen an diesem Samstagabend über Skrupellosigkeit.Angeführt von Borussia Dortmunds Mentalitätsspieler Thomas Delaney und ihrem Mannschaftskapitän Simon Kjaer bilden die dänischen Nationalspieler eine menschliche Mauer um ihren Mitspieler und die Ärzte, die dort unten auf dem Rasen das Leben von Christian Eriksen retten werden.

Eine Mauer aus Fußballerbeinen und roten Trikots. Bilder, die um die Welt gehen werden. Ein menschlicher Schutzwall gegen die Abartigkeit boulevardesker Leichenfledderei. Ein wichtiges Signal. Ein Aufschrei der Anständigkeit.

Denn auf der ganzen Welt schauen heute Abend Kinder zu. Sie werden viel lernen in den folgenden Minuten. Dinge, die wichtiger für ihr Leben sein werden als die Tempodribblings von Kylian Mbappé, die neuesten Tricks von Cristiano Ronaldo oder die Glanzparaden von Manuel Neuer. Eine Lektion der Vernunft gegen die Perversion eines durch Sensationswahn deformierten Reichweitenoptimierungs-Journalismus.

Die schönste Nebensache der Welt?

Während also in den Chefredaktionen in Handys gebrüllt wird, ob es denn wirklich kein einziges Bild von der Reanimation gibt, Christian Eriksen glücklicherweise schnell wieder bei Bewusstsein und im Krankenhaus stabil ist, wechseln sich die Fans im Stadion mit Gesängen ab. Zwei Lager, die in ihren Blöcken zusammenkamen, um den Gegner zu verhöhnen und sich schadenfroh in seiner Niederlage zu suhlen, beweisen mehr Gespür für den Moment als die meisten Medien. Fußball rückt in den Hintergrund, wenn es um einen Menschen geht. Die Liebe zum Spiel bedeutet auch die Liebe zum Leben.

Der finnische Block skandiert "Christian", der dänische antwortet mit "Eriksen". Minutenlang skandieren gegnerische und eigene Fans gemeinsam den Namen eines Spielers, der gerade vor ihren Augen zusammengebrochen war. Die schottische Fußballlegende Bill Shankly sagte mal "Einige Leute halten Fußball für eine Sache von Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist!" In dieser etwas indezent vorgetragenen Weisheit steckt viel Wahres. Fußball kann sehr viel mehr als ein Spiel sein.

Fußball kann Brücken bauen. Fußball kann Zeichen setzen. Fußball kann Botschaften senden. Die dänische Mannschaft, die Ärzte, die Sanitäter und die Fans beider Lager haben das eindrucksvoll bewiesen. Wenn es ernst wird, müssen wir zusammenhalten. Davon sollten sich unsere Gesellschaft, genauso wie unsere Medien, ruhig mal inspirieren lassen.

Der Leonardo diCaprio von Hamburg Winterhude

Schon lange keine Sprechchöre mehr hat dagegen Til Schweiger bekommen. Der Mann, der uns "KeinOhrHasen" gebracht hat. Aber auch die dünnhäutige Klage, das deutsche Feuilleton würde seine Werke nie als die kunstvollen Kleinode der Filmgeschichte erkennen, die sie doch wären.

Immerhin sei er der erfolgreichste Filmemacher der Nation. Der Weltmeister im Freestyle-Nuscheln aller Gewichtsklassen. Der Vorzeige-Feminist und Menschenfreund (googeln Sie mal "Anika Decker Til Schweiger"). Der Mann, der vollmundig den Bau eines Highend-Flüchtlingsheims ankündigte, stattdessen dann aber doch lieber eine Pizzeria eröffnete, in der er Leitungswasser für knapp fünf Euro pro Liter verkauft.

Alles in allem also jemand, der schon vor einigen Wochen verwundert vermisst wurde, als sich Deutschlands intellektuellste Schauspieler und Schauspielerinnen als Hobby-Virologen outeten und unter #AllesDichtmachen dem unterjochten Merkel-Marionetten-Volk erklärten, was eigentlich eine Pandemie ist – und vor allem, wie man darauf zu reagieren habe. Gut, alles wurde danach nicht dicht gemacht. Jedenfalls nicht so dicht, wie die Hintermänner der Aktion gewesen sein müssen, wenn sie dachten, mit dieser Aktion Beifall außerhalb der Querdenkerszene zu erhalten.

Heute wissen wir: Die, naja, Kunstaktion, deren Ironie selbst mit einem ausgeprägten Humor-Detektor schwerer auffindbar war als das Bundestags-Wahlprogramm der CDU, war Schweiger vermutlich einfach zu lasch. Warum in Plastiktüten atmen, verunglückte literarische Fremdkreationen aufsagen oder aus der letzten Yogastunde hängengebliebene Esoterik-Platituden runterstottern, wenn man seine Bewunderung für gezielte Desinformation auch direkt an der Quelle auftanken kann?

Til Schweiger, der sich als europäischer Leonardo diCaprio sieht, oder eigentlich eher Leonardo diCaprio als den Til Schweiger Hollywoods, reißt sich diese Woche alle Masken runter, aber im wahrsten Sinne des Wortes. Nachdem es schon vor einigen Wochen erste Tendenzen zur Xaviernaidooisierung Schweigers gab, als er seinen Fans mitten im härtesten Lockdown der Corona-Pandemie ausgerechnet Bodo Schiffmann empfahl, der die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie gerne mal mit dem Ermächtigungsgesetz vergleicht, das Adolf Hitler 1933 in die Diktatur gehoben hat, geht er jetzt All In.

Reitschuster – der Til Schweiger der Journalismus-Darsteller

Um sich den Grand Slam der Aluhut-Meisterschaften endgültig zu sichern, posiert Schweiger auf Instagram diese Woche stolz mit seinem "Helden" Boris Reitschuster. Ein selbsternannter Journalist, der auf seinem Blog eine Art Abenteuerspielplatz für Fake News betreibt.

Ein von seinen Abonnenten gleichsam finanzierter wie radikalisierter Einzelkämpfer, der inzwischen so oft als faktenallergischer Superspreader für alternative Wahrheiten entlarvt wurde, dass sogar YouTube seinen Kanal sperren musste. Da kommt es dem Prototyp des simulierten Investigativ-Journalisten natürlich zupass, Til Schweiger als neuen Verbündeten präsentieren zu können. Zufällig kurz nach dem mit seiner Verbannung aus dem YouTube-Kosmos einhergehenden Reichweiten-Schock.

Eine unheilige Allianz der Selbstüberschätzung, die zweifelsfrei passt wie die berühmte Faust aufs Auge. Der Mann, der schauspielerisch besser einen Journalisten darstellen kann, als Til Schweiger einen Tatort-Kommissar, Hand in Hand mit dem Mann, der seinen Film "Honig im Kopf" ein wenig zu sehr verinnerlicht zu haben scheint.

Da jubelt die Corona-Leugner-Bubble euphorisch und feiert den nächsten ex-prominenten Zugang nach Xavier Naidoo, Michael Wendler und Attila Hildmann. Übrigens - Stichwort Schweiger und Faust aufs Auge: Googeln Sie doch mal "Schweiger M´Barek Schlägerei".

Warum nun aber ausgerechnet Instagram? Das ist einfach. Durch den Triumphzug der Social Media Plattformen kann heute jeder von zu Hause sein eigenes Magazin, sein eigener Fernsehsender oder sein eigener News-Channel sein. Hier sieht Schweiger vermutlich das größte Multiplikationspotenzial. Wenn man bedenkt, dass selbst Tweets von so unbedeutenden Publizistinnen wie mir in der Regel eine höhere Reichweite erzielen, als etwa "Spiegel" oder "FAZ" an Auflage erreichen, eine durchaus nachvollziehbare Überlegung.

Ob Til Schweiger seine verbliebene Restpopularität in Kreisen, die nicht AfD wählen, damit verspielt hat oder es ihm im Gegenteil gelingt, als Katalysator für Boris Reitschusters wackeren Kampf gegen Christian Drosten und die eigene Bedeutungslosigkeit dessen Reichweitendelta auszugleichen, das verrate ich Ihnen in der kommenden Woche. Bleiben Sie gesund!

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