Was für eine Woche. Wahrheiten, Abgründe und Selbstdemontage an jeder Ecke. Als Chronistin des alltäglichen Wahnsinns, muss ich inzwischen Steno können, um überhaupt noch halbwegs mithalten zu können.
Highlight jagt Highlight. Die Wiedergeburt der deutschen Nationalelf bei der Europameisterschaft etwa. Kaum hatte man sich langsam genug über die eher mittelmäßige Leistung gegen Weltmeister Frankreich echauffiert, landet die Truppe um Intimbereich-Schnüffler
Dabei hatte Portugal-Ikone
Medienwirksam sortierte er auf einer Pressekonferenz vor der staunenden Sport-Journaille erstmal empört alle zuckerhaltigen Softdrinks des EM-Hauptsponsors aus. Der Aktienkurs der Coca-Cola AG brach nach dieser Aufräumaktion direkt um vier Milliarden Dollar ein.
Das ist eine Vier mit neun Nullen. So eine Summe an nur einem Tag zu verbrennen, das bekommt normalerweise nicht mal
Stichwort braune Brause: Könnte Ronaldo nicht demnächst statt Cola-Flaschen Parteibücher von der AfD aus dem Bild räumen?
Da ist jetzt aber der Regenbogen überspannt
Coca-Cola jedenfalls bekommt diese Woche eine Klatsche von Cristiano Ronaldo, wird aber von der Deutschen Mannschaft umgehend gerächt. Statt Brause-Flaschen hätte Ronaldo nämlich besser Abwehr-Flaschen aussortieren sollen.
Denn Portugal ging zwar in Führung, fing sich dann aber vier Gegentore. Die ersten zwei innerhalb von nur vier Minuten – beides Eigentore. So viele Eigentore in so kurzer Zeit kennt man sonst nur von Annalena Baerbock.
Bevor Deutschland in Person von Champions League Sieger Kai Harvertz das erste selbst erzielte EM-Tor gelingt, liegt man schon 2:1 vorne. Am Ende sehnt sich Ronaldo nach einer Frust-Cola und Deutschland feiert einen beinahe historischen Sieg. Da liegt man sich natürlich im ganzen Land euphorisch in den Armen.
Im ganzen Land? Nein: Die Chefnörgler von der "Danke, Merkel"-Pöbelpartei AfD finden auch im größten Triumph noch eine Hintertür, die man für menschenverachtende Hetze eintreten kann. Diese Woche erledigt das Uwe Junge.
Ein weiterer Starspieler aus dem AfD-Panoptikum der Fortschrittsverweigerer. Junge, der mit seinem Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Schnörri immer ein bisschen aussieht wie der Urgroßvater von Horst Lichter und der sich gerne oberkörperfrei mit Fahrradhandschuhen beim Rummelboxen fotografieren lässt, kann dem Sieg nichts Positives abgewinnen.
Junge, komm so bald nicht wieder (Freddy Quinn)
Es ist nämlich Pride Month und Adlerauge Junge entdeckt eine Regenbogen-Binde an Mannschaftskapitän Manuel "Reklamierarm" Neuer. Da hört der Spaß für einen aufrechten Deutschen auf.
Was soll man als AfD-Protagonist noch alles ertragen? Erst will man das Münchener EM-Stadion zum letzten Gruppenspiel gegen Ungarn in LGBT-Farben erstrahlen lassen, weil die politische Führung von Gegner Ungarn Homosexuellen gegenüber zuletzt eine Toleranz erkennen ließ, die sogar Scheichs in Dubai wie Elton John wirken lassen. Und dann führt die blonde, deutsche Eiche Neuer sein Team auch noch mit einer "Schwuchtelbinde" (sorry, O-Ton Uwe Junge) auf den Platz.
Da ist natürlich Synapsen-Kirmes bei Deutschlands homophobsten Rückwärtsdenker. Auf Twitter eskaliert Junge in schwulenfeindliche Sphären als würde man als über 60-jähriger Ex-Berufssoldat mit Wahrnehmungsneurose durch das Betrachten von Regenbogenfahnen die Delta-Variante von COVID-19 bekommen.
Dabei ist bei dieser kompletten Kapitulation vor dem Thema Menschlichkeit noch nicht mal mit einberechnet, dass gegen Portugal mit Gnabry, Rüdiger, Gündogan, Can und Sane auch noch die Hälfte der Mannschaft Migrationshintergrund hatte.
Sollte einer dieser Nationalspieler jetzt zusätzlich noch schwul sein, implodiert das, naja, Kleinhirn von Uwe Junge und seine toxische Männlichkeit verglüht zu den Klängen von "YMCA" von den Village People. Oder wie Die Ärzte sagen würden: "Junge, warum hast Du nichts gelernt?"
Komm mit mir ins Regenbogenland, der Eintritt kostet den Verstand
Wer jetzt glaubt, Uwe Junges Regenbogenallergie wäre bereits der Tiefpunkt der Woche gewesen: Fehlalarm. In einer für viel Aufsehen und leider auch viel geistigen Sondermüll sorgenden Instagram-Story berichtet die junge Berlinerin Nika Irani davon, wie der kommerziell äußerst erfolgreiche Rapper Samra sie vergewaltigt habe.
Was folgt, sind die traurigen Mechanismen einer Öffentlichkeit, für die eine freizügig gekleidete Frau beim Thema Vergewaltigung immer noch automatisch als provozierende Mittäterin gilt. Wenn nicht sogar als "Schlampe" oder "famegeile Lügnerin".
Das ist ein bisschen so, als würde sich ein Bankräuber damit verteidigen, die Sparkasse trüge selbst die Schuld daran, dass er sie überfallen hat. Hätte sie halt nicht so viel Geld im Tresor aufbewahrt.
Reflexartig werden Horden von selbsternannten Juristen und Wahrheitskennern zu Scharfrichtern über eine junge Frau, die soeben die vermutlich grauenvollsten Momente ihres Lebens mit der Öffentlichkeit geteilt hat.
Die entsetzliche Erlebnisse erneut durchleben muss und dafür auch noch exhaustiv in die Ecke einer kriminellen Betrügerin gestellt wird, die den Ruf eines Mannes für Geld und ein paar Tausend Instagram-Follower zerstören möchte.
Versteht mich nicht falsch: Natürlich gilt in einem Rechtsstaat die Unschuldsvermutung. Dennoch gibt es keine strafrechtlich relevante Anschuldigung, bei der so regelmäßig eine sofortige Täter-Opfer-Umkehr eingeleitet wird, wie bei Vergewaltigung. Das ist vollkommen unverständlich.
Denn während laut Studien mindestens jede siebte Frau ab 16 Jahren in Deutschland bereits strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt und 25 Prozent aller Frauen körperliche bzw. sexualisierte Gewalt durch ihren Partner erleiden mussten, erfolgen lediglich knapp 8.000 Anzeigen wegen Vergewaltigung pro Jahr.
Team Nika Irani
Die Dunkelziffer ist riesig. Das hat mit Scham zu tun, aber auch mit Angst vor dem Täter und vor allem mit Statistik. Die Aussicht darauf, Gerechtigkeit zu erfahren, ist in Deutschland gering: Lediglich 13 Prozent der Vergewaltigungsprozesse enden mit einer Verurteilung.
Wer als Frau seinen Vergewaltiger anzeigt, hat formaljuristisch kaum Chancen. Es läuft eben selten ein Video mit, das eine Vergewaltigung eindeutig beweisen könnte. In den meisten Fällen steht Aussage gegen Aussage.
Und solange wir in einer Welt leben, in der das Tragen eines kurzen Rockes oder das Veröffentlichen von erotischen Fotos als vorauseilende Pauschalerlaubnis für sexuelle Übergriffe ausgelegt werden, bleibt es für jeden Anwalt ein Leichtes, einer Frau im Gerichtssaal ihre Glaubwürdigkeit zu nehmen.
Wenn die sich dann auch noch "Playgirlnika" nennt und über die Plattform Onlyfans Nacktbilder verkauft, ist die Beweisaufnahme bereits abgeschlossen, bevor überhaupt irgendwer bei der Polizei war.
Warum tendiert die Öffentlichkeit (überraschenderweise übrigens nicht nur Männer) automatisch dazu, einer Frau nicht zu glauben, wenn sie über eine Vergewaltigung berichtet? Wenn jemand erzählt, in der vergangenen Nacht wäre sein Auto geklaut worden, ist die häufigste ad hoc Reaktion ja auch nicht: "Das glaube ich nicht. Das wird wohl Versicherungsbetrug sein".
Bei Vergewaltigung dagegen schon. Wie absurd ist das? Und wie viel zusätzlichen Schmerz verursacht das bei den Opfern? Der Fachbegriff für dieses Phänomen lautet übrigens: Luke Mockridge Paradoxon.
Also: Glaubt Frauen, wenn sie sich durchringen, über derartig verstörende Erlebnisse zu berichten. Und wenn Ihr selbst betroffen sein solltet: Holt euch Hilfe. Ihr seid nicht allein. Es gibt beispielswiese ein Opfer-Telefon vom Weissen Ring, welches Ihr telefonisch unter 116 006 erreicht.
Ich bin Botschafterin beim Weissen Ring und kann versichern, dass man dort schnelle, unbürokratische und auf Wunsch natürlich auch anonyme Soforthilfe und Unterstützung bekommt. Bitte haltet die Augen offen, solidarisiert Euch mit den Opfern und macht Euch laut gegen sexuelle Gewalt! Bis nächste Woche!
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