278.000 Menschen haben im vergangen Jahr versucht, ohne gültige Papiere nach Europa einzureisen. Die meisten fliehen aus Bürgerkriegsgebieten, aus Syrien, aus dem Irak, aus dem Sudan. "Illegale Einreise" nennt die EU-Grenzschutzagentur Frontex das, was die einzige Möglichkeit für die Flüchtlinge ist, ihr verbrieftes Recht auf einen Asylantrag zu nutzen. Denn nur wer es auf den Boden der EU schafft, kann diesen Antrag stellen – und die Mitgliedsstaaten investieren viel Geld, um genau das zu verhindern. Kritiker sprechen deswegen von der "Festung Europa": Die Union schottet sich ab von denen, die nicht gewollt sind – mit teils dramatischen Folgen wie den Schiffsunglücken auf dem Mittelmeer.

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Das System der Abschottung basiert auf gemeinsamen Einreisebestimmungen: Nicht-EU-Bürger dürfen sich nur mit einem gültigen Visum länger als drei Monate in der EU aufhalten. Alles andere gilt als illegal. "Das Grenzregime der EU fängt an mit der Vergabe von Visa und geht weiter bei der Zusammenarbeit mit Transitstaaten", erklärt Fabian Georgi, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Marburg. Er forscht zur Internationalisierung von Grenzkontrollen.

Europa umgeben insgesamt 12.000 km Land- und 45.000 km Seegrenzen. Die Abwehr nicht erwünschter Grenzübertritte beginnt aber teils schon in den Heimatländern, sagt Fabian Georgi. Erst danach kommen die Maßnahmen an der Grenze: Pass-, Visa- sowie Polizeikontrollen.

Entwicklungshilfe für Grenzkontrollen

Die bevorzugten Routen der Flüchtlinge sind bekannt: Rund 90 Prozent der Flüchtlinge, so schätzt die EU-Grenzagentur Frontex, kommen über das Mittelmeer, über Marokko, Tunesien, Libyen oder durch die Ägäis. Der Rest versucht es über den Landweg, über die Türkei nach Griechenland oder Bulgarien, durch Weißrussland oder die Ukraine nach Polen, Ungarn oder Rumänien.

Die EU hat eine Art Puffer vor ihren Grenzen errichtet. Mit einigen Anrainerstaaten wie Libyen, Tunesien, der Ukraine und Weißrussland besteht seit mehr als zehn Jahren eine enge Zusammenarbeit. Besonders augenfällig wurde das bei den Deals mit Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi. Der galt zum Beispiel Italien lange Zeit als freundschaftlicher Partner, solange er die libyische Grenze zum Tschad abriegelte und abgeschobene Flüchtlinge wieder zurücknahm. Dafür schickte Rom moderne Ausrüstung und einige Millionen über das Mittelmeer.

Ähnliche Vereinbarungen bestanden auch mit Tunesien unter dem bis 2011 autokratisch regierenden Präsident Ben Ali. "Komplizenstaaten" nennt Migrationsexperte Fabian Georgi solche Länder. Sie werden auch über direkten und indirekten Druck angeworben: "Werden die Leute nicht abgefangen, gibt es keine Entwicklungshilfe." Doch in Nordafrika hat der Arabische Frühling die Staaten destabilisiert, die Kontrollen sind durchlässiger geworden. "Die Autonomie der Migration nimmt zu", sagt Georgi.

Satelliten, Drohnen und Zäune

Für die Grenzkontrollen selbst sind die jeweiligen Mitgliedsstaaten der EU verantwortlich - und bauen etwa stark gesicherte Zäune. Im vergangenen Jahr errichtete beispielsweise Griechenland für 5,4 Millionen Euro einen 12,5 Kilometer langen Zaun an der Grenze zur Türkei. In Bulgarien ist der Zaun 30 Kilometer lang. Er wirkt: Wollten 2013 noch 11.000 Menschen von der Türkei aus nach Bulgarien fliehen, waren es 2014 innerhalb eines Zweimonatszeitraums nur noch 300 Menschen.

Die EU verfügt nicht über eigene Grenzpolizisten, aber über eine Grenzagentur, Frontex. Sie hat 256 Mitarbeiter und ein Budget, das seit der Gründung 2004 ständig steigt. 2015 liegt es bei 115 Millionen Euro. Viel Geld steckt Frontex in Forschung und Technik. So sind die Mitgliedsstaaten technisch auf dem neuesten Stand. Gekauft werden die Nachtsichtgeräte und Drohnen dann mit Mitteln aus dem Fonds "Solidarität und Steuerung der Migrationsströme".

Seit 2007 flossen rund vier Milliarden an die Grenzstaaten, nach Angaben von Frontex mindestens die Hälfte davon in Überwachungstechnik, Polizisten und in Zäune, die die Flüchtlinge abwehren sollen. Mehr als 244 Millionen Euro lässt sich die EU von 2013 bis 2020 das Projekt "Eurosur" kosten. Es soll die Überwachung der Außengrenzen noch verstärken – mit neuen Drohnen, Satelliten und Sensoren.

Das Prinzip Guantanamo

Doch es bleibt nicht nur bei verstärkten Kontrollen. Kritiker der EU-Grenzpolitik weisen immer wieder auf sogenannte "Push-Back-Aktionen" hin, auf das aktive Zurückdrängen von Flüchtlingen. In Griechenland, so behauptete zumindest die Menschenrechtsorganisation "Pro Asyl", sei schon scharf auf Flüchtlinge geschossen worden. Im Oktober 2014 zeigte ein Video, wie ein Grenzpolizist einen Flüchtling niederschlägt, der in der spanischen Exklave Melilla im Norden Marokkos über einen Zaun auf spanischen Boden gelangen will. Sogar die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström distanzierte sich öffentlich von den Vorgängen, das gegen EU-Recht verstößt.

Doch die harte Haltung sei politisch gewollt, meint Migrationsexperte Georgi: "Es ist ja bekannt, dass es diese Push-Back-Aktionen gibt, in Ungarn, in Griechenland. Die Behörden lesen ja auch Zeitung." Die anderen Mitgliedsstaaten ignorierten das aber, solange es geht. "Es ist wie in Guantanamo: Man will Räume schaffen, in denen man außerhalb des Rechts agiert."

Grenzpolitik als Abschreckung also. Die wird in den Grenzstaaten auch angewendet, weil nach dem Dublin-II-Abkommen derjenige Staat für einen Asylantrag verantwortlich ist, in dem die illegale Einreise erfolgte. Damit liegt die größte Last der Abwehr von ungewünschten Einwanderern auf den Grenzländern.

Seenotretter als "Brücke nach Europa"

Weil der Landweg nach Europa mittlerweile immer besser gesichert ist, nehmen immer mehr Flüchtlinge den gefährlichen Weg über das Mittelmeer. Im vergangenen Jahr haben laut den Vereinten Nationen rund 200.000 Menschen den Weg über das Mittelmeer nach Europa gesucht, mehr als 3400 starben bei Schiffsunglücken.

Zuständig für die Kontrollen auf hoher See sind die unmittelbaren Anrainerstaaten, wie zum Beispiel Italien. Die Schiffskatastrophe vor Lampedusa im Herbst 2013 löste dort ein Umdenken aus: Für zehn Millionen Euro im Monat startete Rom die Aktion "Mare Nostrum", bei der die Marine weit vor der Küste patroullierte. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber innerhalb eines Jahres rettete "Mare Nostrum" zehntausende Flüchtlinge aus Seenot.

Doch die EU beteiligte sich nicht an den Kosten. Deutschlands Innenminister Thomas de Maizière bemängelte gar, die Operation habe sich als "Brücke nach Europa" erwiesen. Im Oktober 2014 endete "Mare Nostrum". Die neue Operation "Triton" wird von Frontex geführt und kostet nur drei Millionen Euro im Monat – weil sie sich nicht auf Seenotrettung konzentriert, sondern nur auf die Abwehr unerwünschter Einwanderung in Küstennähe. Viele Experten fordern angesichts der neuen Unglücksfälle im Mittelmeer nun eine Neuauflage von "Mare Nostrum".

Migrationsexperte Fabian Georgi glaubt, dass sich die Situation noch weiter zuspitzen wird – und sich die Politik der EU grundlegend ändern muss: "Es ist keine Option, einfach Tausende ertrinken zu lassen."

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