Stephan Anpalagan ist Journalist, Geschäftsführer der Unternehmensberatung "Demokratie in Arbeit" und eine wichtige Stimme auf Twitter, wenn es um Themen wie Integration und Diskriminierung geht. Im Interview spricht er über die Politisierung einer Sauce, das Potenzial von Twitter und warum er von Talkshows eine größere Gäste-Vielfalt fordert.

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Herr Anpalagan, sind Sie erfreut, dass Knorr seine "Zigeunersauce" nun umbenennt?

Stephan Anpalagan: Auf jeden Fall. Es geht dabei um die Forderung, dass man rassistische, diskriminierende Äußerungen und Bezeichnungen aus dem öffentlichen Raum tilgt oder sie mit einer Einordnung versieht. Das Wort "Zigeuner" ist zweifelsohne ein diskriminierender Begriff, daher finde ich es gut, wenn sich jetzt ein Privatunternehmen dieser Debatte stellt und Konsequenzen zieht. Knorr tut sich damit ja auch selbst einen Gefallen.

Inwiefern?

Wenn Sie zum Beispiel Betreiber einer "Mohren-Apotheke" sind, kommen Sie im Jahr 2020 um diese Debatte nicht mehr herum. Im Gegenteil, man muss heute davon ausgehen, dass Sie als Betreiber um den Beleidigungscharakter des Wortes wissen. Wenn Sie sich dann trotzdem gegen eine Umbenennung entscheiden, wirft das Fragen auf.

Sie sprechen auch von der Möglichkeit, diskriminierende Wörter mit einer Einordnung zu versehen. Wäre so etwas zum Beispiel beim Berliner U-Bahnhof "Mohrenstraße" denkbar?

Nein, den sollte man meiner Meinung nach umbenennen. Es gab in Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs zahllose Adolf-Hitler-Straßen und -Plätze, die hat man auch nicht stehen lassen, um anschließend eine kleine erklärende Messingtafel dranzuhängen.

"Als Raider zu Twix wurde, hat das auch niemanden gestört"

Was kann die Namensänderung einer Sauce langfristig bewirken?

Ich weiß nicht, ob diese einzelne Änderung etwas Grundsätzliches bewirkt. Es hat sich aber etwas im Bewusstsein der Gesellschaft verändert, weshalb sich dieses Unternehmen entschieden hat, sein Produkt umzubenennen.

Eigentlich ist es ein ganz banaler Vorgang, als Raider zu Twix wurde, hat das auch niemanden gestört. Doch die Umbenennung der "Zigeunersauce" hat in rechten Kreisen dermaßen für Aufruhr gesorgt – das zeigt mir, dass es gar nicht um eine Soße geht, sondern um Definitionsmacht und Deutungshoheit.

Es geht darum, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickelt und dass auf eine tolerante, inklusive Gesellschaft hingearbeitet wird. Und wenn sich ein großer Player wie Knorr beziehungsweise Unilever in diese Entwicklung einklinkt, ist das ein gutes Zeichen.

Die Saucen-Debatte wurde auch auf der Plattform Twitter heftig geführt. Sie haben dort 42.000 Follower, welche Möglichkeiten bietet Ihnen das?

Das Positive an Twitter ist, dass dort gesellschaftliche Entwicklungen abgebildet werden können - unabhängig davon, ob ein Redakteur diese Entwicklung mitbekommt und in seine Zeitung schreibt.

Sie können einen Gedanken, eine Idee auf Twitter schreiben und 17 andere, die diese Idee gut finden oder ähnlich fühlen, tragen das weiter und können einen Schneeballeffekt auslösen, der im Idealfall auch Entscheider erreicht und zu einer Auseinandersetzung zwingt.

Leider funktionieren Hetzkampagnen in diesem System nach demselben Muster, was wiederum die Schattenseite darstellt, die mit solchen Plattformen einhergeht. Es ist dennoch auf jeden Fall besser als in den 1960er Jahren, wo einem der "Tagesschau"-Sprecher erzählen konnte, was gerade in der Welt vor sich geht, ohne dass man direkt selbst dazu seine Meinung publizieren konnte.

"Twitter bildet nur ab, wie die Leute ticken"

Was sagen Sie zur Bezeichnung von Twitter als "Empörungsmaschine"?

Kennen Sie noch "Florida-Rolf"? Jenen Mann, den die "Bild"-Zeitung Anfang der 2000er Jahre als "faulsten Arbeitslosen" bezeichnet und eine große Kampagne gegen ihn gefahren hat? Oder die vielen Artikel über die "Pleite-Griechen"?

Diese "Empörungsmaschine" gab es schon immer. Sie war nur lange Zeit eine Einbahnstraße von Medienmachern und PolitikerInnen, die eine Kampagne in die Welt gesetzt und dann diese Sau allein durchs Dorf getrieben haben.

Im Fall von "Florida-Rolf" wurde gar ein so hohes Maß an Empörung erreicht, dass die Politik eine Änderung des sehr komplizierten deutschen Sozialrechts in nur wenigen Wochen durchgepeitscht hat, damit dieser Rolf in Florida keine Sozialhilfe mehr bekommt.

Die Menschen haben sich also nicht geändert, nur die Plattform ist jetzt eine andere...

Ja, ich denke, dass diese Art von Erzählung, dieser Diskursmechanismus in uns angelegt ist, er ist eingeübt und hat sich bewährt, im Positiven wie im Negativen.

Twitter selbst ist nicht die Empörungsmaschine, die Plattform bildet nur ab, wie die Leute ticken. Natürlich wurden technisch bestimmte neue Anreizsysteme geschaffen, doch die Empörung und Kampagnen gab es vorher genauso.

Erinnern wir uns an die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992: Damals wurde um den Asylkompromiss Artikel 16 eine hoch-toxische, emotionale Debatte geführt, die dann völlig übergekocht ist, bis zu dem Punkt, dass Pogrome ausgebrochen sind. Dieses Übel, das wir produzieren, daran sind nicht Twitter oder Facebook schuld.

"Reaktionen auf Twitter repräsentieren nicht den Querschnitt der Gesellschaft"

Laut der ARD/ZDF-Onlinestudie 2019 nutzen in Deutschland gerade mal zwei Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren täglich Twitter.

Ich weiß, dass Twitter von vielen JournalistInnen, PolitikerInnen und AktivistInnen genutzt wird. Von denen auf Twitter gelesen zu werden, funktioniert für mich. Ich schreibe aber auch viel auf Facebook, dort ist die Diversitätsquote deutlich höher, man erreicht mehr Menschen aus deutlich unterschiedlicheren Bevölkerungsteilen. Und mit Artikeln, die ich für Tageszeitungen schreibe, erreiche ich wieder andere Leserschaften.

Ich habe nicht die Illusion, dass die Reaktionen auf Twitter den Querschnitt der Gesellschaft repräsentieren. Das anzunehmen ist ein Fehler, den manche Twitter-Nutzer machen.

Etwa 25 Prozent der Einwohner Deutschlands haben einen Migrationshintergrund. Schaut man sich aber zum Beispiel die Talkshows an, liegt der Anteil von Gästen mit Migrationshintergrund dort bei nur etwa fünf Prozent. Was sind die Gründe dafür?

Man muss dazu wissen, dass in der Medien-Branche selbst nur etwa jeder 50. einen Migrationshintergrund hat. Bei denen, die vor der Kamera zu sehen sind, Moderatoren, Korrespondenten et cetera, ist es maximal jeder Zehnte.

Und wenn man sich die Gäste anschaut, die in solche Sendungen eingeladen werden, sieht es kaum besser aus: Ob Minister, Firmenchefs, Verbandsvorsitzende, im Spitzenbereich hat kaum jemand eine Zuwanderungsgeschichte. Was vor allem damit zu tun hat, dass Menschen mit Migrationshintergrund dort kaum Zugangsmöglichkeiten haben.

Sie würden die Sender für die geringe Quote also in Schutz nehmen, weil sie nur die Realität abbilden?

Nein, auf gar keinen Fall. Erstens können sie bei sich selbst anfangen: Wenn es in einem Sender keinen Zugang für Menschen mit Migrationshintergrund gibt, kann er das ändern, indem er etwa die Art der Ausbildung oder der Bezahlung anders organisiert.

Die heutige Journalismusausbildung, wo man sich oft vom unbezahlten Praktikum zum schlecht bezahlten Volontariat hangelt, kann sich eben nicht jeder leisten.

Zweitens: Es ist Aufgabe von Journalismus, die Welt so abzubilden, wie sie ist. Wenn also jeder vierte Mensch in Deutschland einen Migrationshintergrund hat, muss ich als Redaktion auf die Suche gehen und vielleicht auch Leute einladen, die "außerhalb der Reihe" sind – anstatt immer nur Wolfgang Bosbach und Rainer Wendt.

Besonders Sandra Maischberger erntete im Juni 2020 viel Kritik, als sie in einer Sendung über "Black Lives Matter" sprechen wollte, mit fünf weißen Gästen.

Das war schon verrückt. Es wurde niemand eingeladen, der selbst betroffen oder Experte für dieses Thema ist. Dabei ist mir wichtig festzuhalten: Man sollte Schwarze nicht nur einladen, wenn es um Diskriminierung geht, genauso sollte man Rollstuhlfahrer nicht nur dann anhören, wenn es um das Thema Behinderung geht.

Wir brauchen grundsätzlich und generell eine andere Vielfalt, egal ob das Thema Klimawandel oder Gesundheit ist. Auch eine Vielfalt der sozialen Milieus. Wenn immer nur die weiße, bildungsbürgerliche Mittelschicht in solchen Sendungen debattiert, ist das ein Problem. Das rafft aber niemand in den Redaktionen.

"Wenn nur die weiße, bildungsbürgerliche Mittelschicht in Talkshows debattiert, ist das ein Problem"

Es rafft niemand? Sandra Maischberger oder Maybrit Illner zum Beispiel sind mehrfach preisgekrönte Journalistinnen, mit großen Redaktionen.

Aber wenn deren Redakteure alle weiß sind, in Berlin-Mitte oder im Prenzlauer Berg wohnen, in der bildungsbürgerlichen Mittelschicht zuhause sind, wie schon ihre Eltern, dann kommen die da nicht drauf.

Sie merken nicht, dass die soziokulturelle Umgebung, in der sie sich bewegen, eine Schieflage hat. Sie merken es erst, wenn es einen Leidens- beziehungsweise Veränderungsdruck gibt.

Und den gibt es heute aus den sozialen Medien?

Genau. Auch vor 15 Jahren wussten wir, dass Diversität, Chancengleichheit, Vielfalt und Inklusion wichtig sind. Trotzdem saßen oft nur fünf Männer bei Sabine Christiansen.

Den Redaktionen war das egal, denen ging es eher um die Quote und die "Bild"-Schlagzeile am nächsten Tag. Durch das Fehlen der sozialen Medien als Korrektiv von unten hat es im Prinzip kaum Kritik gegeben. Als Zuschauer konnten Sie vielleicht einen Brief an den Rundfunkrat schreiben, aber das hat ja ehrlicherweise nichts bewirkt.

Inzwischen ist das anders: Heute kann jemand wie ich via sozialer Medien Sandra Maischberger dazu bringen, Farbe zu bekennen. Ich war fassungslos über ihre weiße Gästeliste, also habe ich das ins Netz geschrieben, und weil viele Menschen es geteilt haben, wurde Frau Maischberger plötzlich dazu gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen.

Maischberger hat in die erwähnte Sendung noch kurzfristig eine afro-amerikanische Wissenschaftlerin eingeladen, bestreitet aber, dass dies aufgrund von Druck aus dem Netz geschah.

Ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass es so war. Zuerst haben sie die Sendung geplant, dann haben sie die finale Gästeliste veröffentlicht, daraufhin gab es Kritik und Unverständnis, und erst im Anschluss daran hat die Redaktion eine schwarze Professorin aus den USA eingeladen. Die Wissenschaftlerin hat den späten Zeitpunkt der Anfrage selbst bestätigt. Übrigens via Twitter.

Sind Sie von so etwas auch als Gebührenzahler enttäuscht?

Ich sehe das aus dreierlei Perspektive: Ich bin Gebührenzahler, deutscher Staatsbürger und Deutscher mit Migrationshintergrund. Und egal, welchen dieser Hüte ich mir gerade aufsetze, erwarte ich von öffentlich-rechtlichen Medien, dass sie guten Journalismus machen.

Kummer bin ich da durchaus gewohnt, zum Beispiel als der MDR eine Talkshow mit vier weißen Gästen plante über die Frage, ob man das Wort "Neger" noch sagen darf - unter den Gästen keine einzige afrodeutsche Person, dafür aber die ehemalige AfD-Vorsitzende Frauke Petry. So etwas ist bitter für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, genauso sollte es aber auch allen anderen bitter aufstoßen, weil es schlechter Journalismus ist.

Der MDR hat zuletzt ein Interview mit Björn Höcke geführt. Sind Sie mit dem Resultat zufrieden?

Na ja, Björn Höcke wird vom deutschen Verfassungsschutz beobachtet, weil er im Verdacht steht, die Freiheit in diesem Land zu bedrohen. Diesem mutmaßlichen Verfassungsfeind hat der MDR also eine Plattform geboten.

Inwiefern man bei alledem zufrieden sein kann, weiß ich nicht. Ich halte es eher für eine gefährliche Normalisierung von Rechtsextremen, wenn diese zur besten Sendezeit ihre Parolen lächelnd in die Kamera aufsagen dürfen.

Und das Resultat des Gesprächs hat nun wirklich keinen Erkenntnisgewinn gebracht, niemand weiß nun irgendetwas Neues über die AfD, es wurde nichts Grundlegendes entmystifiziert oder gar entlarvt. Stattdessen jubeln die Anhänger Höckes über die Einladung ihres Führers in den "Staatsfunk" und die "Lügenpresse". Das ist bitter.

"Was ist Jan Fleischhauers Expertise?"

Sie selbst wurden im Juli 2020 von der ARD in den "Presseclub" eingeladen.

Ja, und ich bin dankbar für die Einladung. Aber unabhängig davon möchte ich einfach, dass in der Öffentlichkeit diejenigen zu Wort kommen, die sich mit bestimmten Problemen und Themenfeldern auskennen. Also zum Beispiel Menschen, die zum Thema Rassismus und Diskriminierung forschen, die sich in dem Themenkomplex einsetzen.

Wenn dann aber wieder Jan Fleischhauer oder Wolfgang Bosbach da sitzen, frage ich mich: Was ist deren Mehrwert für die Sendung, was ist deren Expertise? Ich glaube zwar an die Existenz von Universalgelehrten, ich glaube aber nicht, dass Bosbach und Fleischhauer solche sind.

Ich denke, der Debattenkanal und die Gästeauswahl wurden über lange Zeit sehr verengt, viele kluge Stimmen wurden vernachlässigt. Wenn Sie immer nur die ausgetretenen Pfade gehen, dann fallen Ihnen andere wichtige Perspektiven irgendwann nicht mehr auf. Ich würde an die Sender appellieren, sich mehr auf neue Stimmen einzulassen – und vielleicht auch mal das Risiko einzugehen, das jemand ins Studio kommt, der nicht so berechenbar ist.

Verwendete Quellen:

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

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