Seit einem Jahr ist Amira Mohamed Ali gemeinsam mit Dietmar Bartsch Fraktionsvorsitzende der Linkspartei. Im Interview spricht Mohamed Ali über Regierungsverantwortung, Putin-Freunde in den eigenen Reihen, linke Kompromissbereitschaft und das Erbe von Sahra Wagenknecht.
Frau Mohamed Ali, Sie wurden am 12. November 2019 als Nachfolgerin von
Amira Mohamed Ali: Ich bin nicht ihre Erbin. Ich war sehr zufrieden damit, wie sie die Fraktion geführt hat, aber habe die Aufgabe auch gerne übernommen. Dabei bin ich ganz unbefangen.
Besonders
Ich habe den Eindruck, dass inzwischen ein bisschen Ruhe eingekehrt ist. Zuvor wurden Streitereien sehr oft über die Medien ausgetragen. Das ist besser geworden. Nach wie vor gibt es zwar heftige Debatten und Kontroversen – solange es dabei aber um die Sache geht und weniger um Personen, ist das völlig in Ordnung.
Die Linkspartei musste ihren Parteitag im Sommer schon einmal ausfallen lassen, nun wurde auch der in Erfurt Ende Oktober abgesagt. Wie gefährlich wäre es, führungslos ins Wahljahr zu gehen?
Am Wochenende hat der Parteivorstand entschieden, dass der Parteitag im Februar dezentral stattfinden wird – davon gehe ich auch fest aus. Führungslos sind wir aber in keinem Fall – der Parteivorstand ist nach wie vor im Amt. Es ist dennoch wichtig, dass wir die neue Parteispitze zeitnah wählen und uns dann voll auf den Wahlkampf konzentrieren können.
Katja Kipping und Bernd Rixinger kandidieren nicht erneut für den Parteivorsitz. Den Staffelstab geben sie vermutlich an Susanne Hennig-Wellsow und
Das klingt ja so, als hätten wir vorher Irrealpolitik gemacht. Das ist nicht der Fall, denn unsere Forderungen waren immer realistisch. Wir machen Politik für die große Mehrheit der Bevölkerung. Es geht uns darum, konkrete Verbesserungen für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, für Rentnerinnen und Rentner zu erreichen, wir haben dabei besonders die Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen im Blick.
Ist die Ost-Linkspartei in Sachen Realpolitik schon viel weiter als die im Westen? Immerhin fordert Hennig-Wellsow eine Abkehr vom ritualisierten Dagegensein und der Machtscheu.
Als machtscheu empfinde ich uns wirklich nicht – wir sind seit vielen Jahren an Regierungen im Osten beteiligt und stellen in Thüringen sogar den Ministerpräsidenten. Und wir sind in Bremen nun auch in der Regierung dabei, zum ersten Mal im Westen. Im Osten haben wir traditionell eine stärkere Verankerung und aufgrund unserer Wahlergebnisse schon mehrfach regieren können. Ich finde es allerdings nicht sinnvoll, auf Unterschiede zwischen Ost und West abzuzielen. In Ost und West haben zwar zum Teil unterschiedliche Politisierungen stattgefunden, aber wir sind gemeinsam die Linke und haben gemeinsame Ziele. Wir kämpfen gegen Sozialabbau und für eine konsequente Friedenspolitik. Diese Ziele gelten in Ost und West.
Ein Unterschied zwischen Hennig-Wellsow und Wissler liegt auf der Hand: Die Thüringerin will in Berlin regieren – anders als die Hessin Wissler. Auf der Strategiekonferenz hatte Hennig-Wellsow gefordert: "Wir müssen Verantwortung annehmen." Wissler hingegen sagte: "Es rettet uns kein höheres Wesen, kein Gott, kein Kaiser. Und auch keine linken Minister." Nun sollen diese beiden Frauen die Partei in die Zukunft führen - ist da nicht Streit vorprogrammiert?
Hinsichtlich der Frage nach der Regierungsverantwortung gibt es bei der Linken unterschiedliche Sichtweisen. Eine Parteiführung muss ein Meinungsspektrum, das in der Partei besteht, abbilden – Hennig-Wellsow und Wissler tun das. Diejenigen, die ganz pauschal sagen: "Die Linke darf nur dann regieren, wenn wir die absolute Mehrheit haben und unser Programm zu 100 Prozent durchsetzen können" sind eine Minderheit. Klar ist aber: Bloßes Mitregieren ohne einen echten Politikwechsel ist für uns auch keine Option. Es gibt bei manchen die Sorge, dass wir bei Regierungsverantwortung im Bund Grundwerte aufweichen oder aufgeben würden. Ich finde die Sorge berechtigt. Wir haben in unserem Programm klare Grundvoraussetzungen für einen Eintritt in eine Regierung formuliert– wir machen nicht mit bei Sozialabbau, Privatisierung, Aufrüstung und Kampfeinsätzen der Bundeswehr. Wenn die Linke davon abweicht, nur um mitregieren zu können, macht sie sich unglaubwürdig und überflüssig. Eine linke Regierung, die zum Beispiel Sozialabbau betreibt, wäre für uns als Partei verheerend – aber auch für unser Land. Denn es ist wichtig, dass es eine Kraft im Parlament gibt, die an dieser Stelle konsequent ist.
Die Positionen der künftigen Parteispitze scheinen aber nicht vereinbar: Ein bisschen regieren geht schließlich nicht – hier gilt das Prinzip ganz oder gar nicht ...
Ich finde nicht, dass die Positionen unvereinbar sind. Janine Wissler sagt nicht, dass sie unter gar keinen Umständen mitregieren würde. Wenn es so käme, dass es eine Mehrheit für Rot-Rot-Grün oder Grün-Rot-Rot gäbe, dann würde die Frage zunächst lauten: Gehen wir in Verhandlungen? Diese Entscheidung fällt die Partei – nicht die Vorsitzenden alleine. Wenn man über den Koalitionsvertrag verhandelt hat, entscheidet die Partei erneut, ob sie ihn mitträgt. Es handelt sich immer um ein Ringen und Abwägen, wie weit man bereit ist, zu gehen und wo man kompromissbereit ist.
Sie selbst zeigen sich klar offen für eine mögliche rot-rot-grüne Koalition. Wie schätzen Sie die Chancen im Bund dafür ein?
Ich bin offen, aber nur im Rahmen unseres Programmes. Ich will nicht um jeden Preis mitregieren, sondern nur, wenn es reale Verbesserungen für die Mehrheit der Bevölkerung gäbe. Die Chancen sehe ich aktuell leider noch nicht: Rechnerisch fehlt zurzeit die Mehrheit und die möglichen Koalitionspartner machen nicht den Eindruck, als würden sie ein solches Bündnis anstreben. Die Grünen haben sich sehr Richtung Schwarz-Grün ausgerichtet – auch wenn sie das öffentlich nicht sagen wollen, weil es einige ihrer Inhalte unglaubwürdig macht. Die SPD hat mit Olaf Scholz einen Kanzlerkandidaten bestimmt, der wie kaum ein anderer für die Agenda-Politik und Sozialabbau steht und ständig wiederholt, dass er sich eine Regierung mit der Linken nicht vorstellen kann. Die SPD steht hinter dem Nato-Aufrüstungsziel, sie will also, dass zwei Prozent unserer Wirtschaftsleistung für Aufrüstung ausgegeben werden. Das ist Wahnsinn und da ist mit uns keine gemeinsame Sache zu machen. Ein Gefühl von Wechselstimmung kann so nicht aufkommen.
Bewegen sollen sich also vor allem die anderen? Oder ist die Linke auch irgendwo kompromissbereit?
Natürlich, aber die Richtung muss stimmen, über die Schrittlänge kann man debattieren. Wir müssten uns einig sein, dass wir einen echten Politikwechsel gestalten wollen – hin zu mehr Gemeinwohlorientierung, sozialer Sicherheit und weg von einer Politik, die darauf beruht, die Interessen der Reichen und der Industrielobbys zu vertreten. Wir wollen, dass Politik im Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerung gemacht wird. Weitere wichtige Punkte sind für uns etwa eine Mindestrente, eine Abkehr vom Hartz-IV-System und der Privatisierung im Gesundheitswesen. Bei der konkreten Ausgestaltung geht es sicher auch um Kompromisse, man kann nicht erwarten, sein Programm 1:1 in einer Regierungskoalition umzusetzen. Aber ich halte nichts davon, im Vorfeld bereits fiktive Koalitionsverhandlungen zu führen.
In einem Interview hat der linke Bundestagsabgeordnete Alexander Neu die schwulenfeindliche Politik in Russland relativiert: Das Thema der Homophobie in Russland werde in der deutschen Politik gern instrumentalisiert, es gehe den Kritikern darum, das Land vorzuführen und als "kulturell minderwertig" darzustellen. Volker Beck (Grüne) attestierte ihm daraufhin eine "putinophile Ideologie" und forderte den Rauswurf. Neu ist auch regelmäßiger Interviewpartner des russischen Staatsmediums RT Deutsch, wo er unter anderem die Beziehung zwischen Deutschland und den USA als "Vasallenverhältnis" bezeichnete. Wäre ein Rauswurf die richtige Konsequenz oder wie geht die Linke mit Putin-Freunden in den eigenen Reihen um?
Das ist absurd. Wer sich für eine Entspannungspolitik gegenüber Russland einsetzt, ist doch kein Putin-Freund. Ein Abgeordneter ist mit seinem Mandat frei und kann seine Meinung frei vertreten– auch wenn sie nicht meiner Auffassung entspricht. Ich muss mir nicht alles zu eigen machen, was ein Fraktionsmitglied sagt. Aber ich halte nichts davon, Konflikte über die Medien zu führen. Ich suche lieber das direkte, persönliche Gespräch, wenn ich mit etwas nicht einverstanden bin.
Verteidigungspolitiker Matthias Höhn (Linke) bemängelt eine Schieflage bei Anträgen und Presseerklärungen der Fraktion und ihres für die Außenpolitik zuständigen Arbeitskreises zu Gunsten autoritärer Regime wie Russland. Dieser AK wird von Wagenknecht dominiert, Wortführer sind Heike Hänsel, Andrej Hunko, Neu und Sevim Dagdelen. Der "Tagesspiegel" schreibt: "Die Fraktionsführung um Dietmar Bartsch und
Wir haben keine Zirkel, sondern Arbeitskreise und demokratisch gewählte Arbeitskreisleitungen, das gilt natürlich auch für den Bereich Außenpolitik. Sahra Wagenknecht ist übrigens gar nicht Mitglied im Arbeitskreis Außenpolitik. Wenn es aus der Arbeit der Arbeitskreise etwas zu besprechen gibt, tun wir das im Fraktionsvorstand oder bei der Fraktionssitzung, nicht in Hinterzimmern. Und es werden die Anträge eingebracht, die von der Fraktionsmehrheit beschlossen worden sind.
Wählt die Regierung aktuell den richtigen Weg, um aus der Coronakrise zu kommen?
Ich teile die Sichtweise der Bundesregierung, dass es jetzt dringend notwendig war, Schritte einzuleiten, um die stark steigenden Infektionszahlen zu senken. Ob die jetzt getroffenen Maßnahmen hinsichtlich des Infektionsschutzes die richtigen sind, werden wir sehen. Insgesamt hat die Bundesregierung nicht alles getan, damit wir gut durch die Coronakrise kommen. Womit ich zum Beispiel sehr unzufrieden bin, ist die ungenügende soziale Abfederung der Maßnahmen – viele haben Schwierigkeiten beim Zugang zu Staatshilfen. Die Tafeln schließen teilweise wieder, aber diejenigen, die auf sie angewiesen sind, bekommen nirgendwo anders Unterstützung. Es gab richtigerweise ein Verbot von Stromsperren und Mietkündigungen bei Wohnraum bis Ende Juli - eine von uns beantragte Verlängerung wurde aber abgelehnt. Die Bundesregierung hat es außerdem im Sommer versäumt, Krankenhäuser, Schulen und Pflegeeinrichtungen angemessen auf die zweite Welle vorzubereiten. Und es bleibt völlig offen, wer eigentlich für die Krise zahlen soll. Wir fordern, dass es nicht auf dem Rücken der normalen Steuerzahler oder gar durch Sozialabbau geschieht, sondern dass die Superreichen, die in der Krise teilweise sogar noch reicher geworden sind, eine Vermögensabgabe zahlen müssen. Die Bundesregierung muss hier endlich Farbe bekennen.
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