• Im neuen Bundestagspräsidium sitzt mit der SPD-Abgeordneten Aydan Özoğuz erstmals ein Mensch mit Migrationsgeschichte.
  • Im Interview spricht sie über die neue Rolle und erklärt, warum ihre eigene Integrationsgeschichte so erfolgreich verlaufen ist.
  • Außerdem äußert sie sich zu den jahrelangen Anfeindungen aus Reihen der AfD.
Ein Interview

Frau Özoğuz, Sie haben in Ihrer neuen Rolle als Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags kürzlich zum ersten Mal eine Sitzung geleitet. Wie hat es sich angefühlt?

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Aydan Özoğuz: Natürlich hatte ich Respekt vor der Aufgabe. Wann muss ich welchen Knopf drücken und wem in welcher Reihenfolge das Wort erteilen, wann womöglich wieder entziehen – es gibt bei der Leitung einer Plenarsitzung eine Menge Dinge zu beachten. Aber die Vorfreude auf die Aufgabe hat trotzdem überwogen. Meine Wahl war ja ein Novum in der Geschichte des Bundestags.

Sie sind der erste Mensch mit Migrationsgeschichte im Bundestagspräsidium.

Ich bin sehr froh, dass ich nun noch eine Tür aufstoßen konnte. Ich bin überzeugt, dass es Menschen mit Migrationsgeschichten auch in prominenten Positionen braucht, um unterschiedliche Perspektiven einbringen zu können. Aber neben diesem großen Thema fällt mir jetzt schon auf, dass man auch im Kleinen viel bewirken kann.

Wie meinen Sie das?

Als ich die angesprochene Plenarsitzung leitete, habe ich neben anderen Rednerinnen und Rednern auch die Abgeordnete Cansel Kiziltepe aufgerufen. Nach der Sitzung kam sie strahlend auf mich zu und meinte: "Aydan, das war das erste Mal, dass im Bundestag mein Name richtig aufgerufen wurde." Das war mir in dem Moment gar nicht bewusst gewesen, aber ich habe mich über dieses Feedback sehr gefreut.

Özoğuz: "Man kann in Deutschland viel erreichen, auch wenn die eigenen Eltern nicht hier geboren sind"

Sie sind über die Jahre besonders aus der AfD immer wieder übel beschimpft worden. Der damalige AfD-Chef Alexander Gauland wollte Sie 2017 "in Anatolien entsorgen". Sehen Sie Ihre Wahl ins Präsidium auch als Signal an die Partei?

Tatsächlich haben sich viele gefreut, dass ich mich nach dieser und vielen weiteren Attacken durch die AfD nicht habe beeindrucken lassen und jetzt im Präsidium bin. Ich werde selbstverständlich darauf achten, wenn ich Sitzungen im Bundestag leite, dass im Plenum die Regeln von allen eingehalten werden – das war in der Vergangenheit ja oftmals keine Stärke vieler Mitglieder der AfD-Fraktion. Und zum Gauland-Zitat: Damals war ich Staatsministerin. Diese und ähnliche Anfeindungen zielten immer wieder darauf ab, dass jemand mit meiner Herkunft in so einer Position nichts zu suchen habe. Insofern ist meine Wahl ins Bundestagspräsidium auch ein Signal: Man kann in Deutschland viel erreichen, auch wenn die eigenen Eltern nicht hier geboren sind.

Das trifft auch auf Cem Özdemir von den Grünen zu. Haben Sie sich gefreut, dass er künftig als Landwirtschaftsminister Teil des Kabinetts sein wird?

Cem ist schon so lange in der Politik. Wir haben nicht immer die gleiche Meinung, aber er hat damals mit seinem Einzug in den Bundestag Geschichte geschrieben. Mehr als ein Viertel der Menschen in Deutschland hat eine Einwanderungsgeschichte. Ich habe immer gefordert, dass das auch in Ministerposten in der Bundesregierung sichtbar werden sollte.

"Es tut sich etwas, und das ist ein schöner Erfolg"

Um das Verhältnis in der Gesellschaft abzubilden, müssten von den 17 Posten im Kabinett dann aber eigentlich vier oder fünf mit Menschen mit Zuwanderungsgeschichte besetzt sein.

Tatsächlich wird der Bundestag oder die Regierung nie alle Gruppen repräsentativ abbilden können. Aber ich denke, dass die Nominierung von Cem Özdemir oder auch meine Wahl ins Bundestagspräsidium wichtige Schritte in die richtige Richtung sind. Zwischen einem Viertel und niemandem – wie im letzten Kabinett – ist ja viel Platz. Es tut sich etwas, und das ist ein schöner Erfolg.

Sie würden dennoch gerne mehr Menschen in Ministerämtern sehen, deren Eltern oder die selbst, wie etwa Ihr Fraktionskollege Karamba Diaby und viele weitere, nicht in Deutschland geboren sind?

Es gibt ja völlig unterschiedliche Einwanderungsgeschichten. Einige von denen auch in der ersten Reihe der Politik zu haben, wäre natürlich schön.

Ihr Parteifreund und Kanzler in spe, Olaf Scholz, könnte das vorantreiben: Die SPD hat noch einige Ministerien zu besetzen.

Ich bin sicher, Olaf Scholz als künftiger Kanzler und wir als SPD werden qualifizierte Leute für die Ministerämter und die anderen wichtigen Regierungspositionen finden. In der SPD-Bundestagsfraktion brauchen wir uns bei diesem Thema jedenfalls nicht zu verstecken.

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"Ich bin sehr froh darüber, dass ich mit zwei Kulturen und Sprachen aufwachsen konnte"

Ihre Eltern sind 1961 nach Deutschland gekommen, rund sechs Jahre später wurden Sie geboren. Sie haben Abitur gemacht, studiert, machen in der Bundespolitik Karriere: Warum hat Ihre eigene Integrationsgeschichte so gut funktioniert?

Meine Eltern haben in einem sehr deutschen Umfeld gelebt, wodurch wir viele deutsche Freunde hatten und natürlich immer Deutsch gesprochen haben. Sie haben großen Wert auf Bildung gelegt und kamen auch zu allen Schulaufführungen und ähnlichen Veranstaltungen. Darum haben mich manche meiner deutschen Freundinnen sogar beneidet. Gleichzeitig ging es bei uns zu Hause auch sehr türkisch zu – zum Beispiel beim Essen und natürlich der Sprache. Ich bin sehr froh darüber, dass ich mit zwei Kulturen und Sprachen aufwachsen konnte.

In welcher Sprache fühlen Sie sich heute am sichersten?

Ganz klar im Deutschen. Ich habe ja nie eine Schule besucht, in der ich das Türkische in allen Feinheiten hätte lernen können. Mit meiner Familie spreche ich aber nach wie vor Türkisch.

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Die beiden haben Ansichten, die ich nicht teile.

Wie konnte es denn passieren, dass Ihre Brüder und Sie an bestimmten Stellen im Leben an so unterschiedlichen Ausfahrten abgebogen sind?

Eigentlich sind ja nur meine Brüder "abgebogen". Die beiden haben sich während ihrer Studienzeit neu orientiert und sind einen anderen Weg gegangen als ihre Freunde und auch als ihre Familie.

"Dieses Gegeneinander-Ausspielen von unterschiedlichen Teilen der Bevölkerung muss aufhören"

Ein- und Auswanderung waren immer Ihre politischen Schwerpunktthemen. Nun stellt Ihre Partei die stärkste Fraktion im Bundestag und bald auch den Kanzler. Was erwarten Sie sich für die Bereiche Integration und Migration in den kommenden vier Jahren?

In der Ampelkoalition verleugnet niemand, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass man das auch gestalten und sich um die Gesellschaft insgesamt kümmern muss. Dieses Gegeneinander-Ausspielen von unterschiedlichen Teilen der Bevölkerung muss aufhören. Wir machen Menschen, die zu uns kommen wollen, Angebote auf dem Arbeitsmarkt. Gleichzeitig wollen wir verhindern, dass Menschen lebensgefährliche Wege gehen, weil sie für sich keine andere Perspektive sehen. Das Sterben auf dem Mittelmeer muss ein Ende finden – daran werden wir hart arbeiten müssen. Das heißt auch, dass wir alles tun wollen, um irreguläre Migration zu verhindern.

Im Koalitionsvertrag wird eine Rückführungsoffensive gegenüber Straffälligen sowie Gefährdern angekündigt. "Nicht jeder Mensch, der zu uns kommt, kann bleiben", heißt es dort. Sehen Sie das als Integrationspolitikerin auch so?

Absolut. Man kann keine glaubwürdige Asylpolitik machen, wenn man nicht gleichzeitig deutlich macht: Wer sein Asylrecht verwirkt, wer hier straffällig wird oder auch gar keinen Asylgrund hat, der kann natürlich nicht in Deutschland bleiben.

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