Die Coronavirus-Krise hat Europa voll erfasst. Zugleich kursieren auch immer mehr Falschmeldungen zum Virus und der von ihm verursachten Lungenerkrankung COVID-19. Ein internes EU-Dokument sieht dahinter nun vielfach einen Urheber: Russland.
Ob Corona-Selbsttest, dreiwöchige Inkubationszeit oder Schutz durch Knoblauch. Diese und weitere mehr oder weniger offensichtlichen Falschnachrichten zum Coronavirus werden derzeit zuhauf über Messengerdienste und in den sozialen Netzwerken geteilt. Die falschen Informationen scheinen sich derzeit so schnell wie die Erkrankung selbst zu verbreiten.
In einem neunseitigen internen Dokument beschreibt die East StratCom Task Force (Strategisches Kommunikationsteam Ost), eine Abteilung des Europäischen Auswärtigen Dienstes, nun eine umfassende Desinformationskampagne im Zusammenhang mit der Corona-Krise. Aus dem Papier zitieren unter anderem die Nachrichtenagentur Reuters, die "Financial Times" und der "Tagesspiegel". Die Task Force warnt demnach mit Blick auf Europa: "Diese Kampagne ist darauf angelegt, Verwirrung, Panik und Angst zu verschärfen."
Nach Feststellung der EU-Kommission kommen viele der kursierenden Corona-Fake-News aus russischen Quellen. Die Fehlinformationen und Lügen würden unter anderem aus Russland oder von russischen Servern verbreitet. Dazu kommen Quellen, die mit dem Kreml zu tun hätten. "Seit dem Ausbruch haben wir die Beobachtung intensiviert", sagte ein Kommissionssprecher am Mittwoch in Brüssel.
Doch was steckt hinter dem Vorwurf? Und was will Moskau damit bezwecken?
Vorwurf: Kreml streue Chaos und Misstrauen
"Der Kreml wendet ähnliche Methoden wie bei jeder anderen Krise an", erklärt Veronika Víchová auf Anfrage unserer Redaktion. Sie leitet das Programm "Kremlin Watch" der tschechischen Denkfabrik Evropske Hodnoty (Europäische Werte). Zusammen mit Kollegen analysiert Víchová russische Propaganda im Fernsehen, Radio und Internet.
So hätten ihr zufolge staatliche russische TV-Kanäle berichtet, dass die vom Virus verursachte Lungenkrankheit COVID-19 in China von einem Ausländer verbreitet worden sei oder dass die USA das Coronavirus missbrauchen, um sich einen Vorteil gegenüber China oder dem Iran zu verschaffen. "Es wurde sogar die Verschwörungstheorie verbreitet, dass das Coronavirus in Wirklichkeit eine biologische Waffe sei", sagt Víchová.
Laut dem internen Bericht habe die EU seit Ende Januar insgesamt 80 Falschmeldungen mit Corona-Bezug erfasst. Laut "Tagesspiegel" habe etwa der russische Radiosender Vesti FM berichtet, in Deutschland fehle es an qualifizierten Ärzten, um das Coronavirus zu bekämpfen. Hauptsächlich ziele die Desinformationskampagne aber bisher auf Italien und Spanien – die EU-Länder, die bisher am meisten unter der Corona-Pandemie leiden. Online seien aber auch Unwahrheiten auf Englisch, Deutsch und Französisch verbreitet worden.
Internationales Fake-News-Karussell
Britische Forscher im Auftrag der EU-Kommission fanden heraus, dass kremlnahe Medien Meldungen verstärkt aus anderen Ländern, wie China, dem Iran oder von der extremen Rechten der USA übernehmen. "Mit dieser Taktik können sie den Vorwurf vermeiden, selbst Desinformationen zu erstellen und stattdessen behaupten, dass sie lediglich über das berichten, was andere sagen", zitiert der "Guardian" aus dem Forschungsbericht.
Dass sich die Meldungen mitunter sogar widersprechen, ist kein Fehler, sondern mitunter sogar gewollt. Moskau verbreitet falsche Informationen, "um Chaos und Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen zu verstärken", bemerkt Víchová.
Die Folge: Menschen beginnen, dem Gesundheitssystem zu misstrauen oder ignorieren, was ihnen vonseiten der Behörden oder der Regierung gesagt wird. Víchová glaubt: Aufgrund der bereits bestehenden Angst und teilweise auch Panik vor der Corona-Pandemie, könnte die aktuelle Desinformationskampagne noch mehr Schaden anrichten als vergangene.
Moskau wirft Brüssel "russophobe Besessenheit" vor
Wenn Russland von der EU auf Falschmeldungen angesprochen werde, distanziere sich der Kreml von diesen Quellen, sagte der Kommissionssprecher für Außenbeziehungen, Peter Stano. Moskau wiederum kritisierte die Vorwürfe der EU als weiteres Zeichen für eine russlandfeindliche Haltung.
Es gebe nicht ein konkretes Beispiel und einen Nachweis für diese haltlosen Behauptungen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. "Von der Idee her sollte die russophobe Besessenheit in dieser aktuellen Lage sinken. Aber offenkundig geht das nicht", erklärte Peskow.
Aus Sicht von Natalia Krapiva, Rechtsberaterin bei der Organisation Access Now, die sich für ein offenes und freies Internet einsetzt, ist nicht der Westen, sondern eher Russland selbst Ziel der Corona-Desinformationskampagne. Diese könnte "hauptsächlich auf das heimische Publikum ausgerichtet sein, um dort antiwestliche Gefühle anzusprechen", sagte Krapiva der europäischen Nachrichtenseite "EURACTIV".
Erster Corona-Todesfall in Russland
Im Falle der Corona-Krise könne so die Verantwortung auf den Westen abgewälzt werden – gerade für den Fall, dass auch in Russland die Infiziertenzahlen wie in zahlreichen EU-Staaten in die Höhe schnellen.
Zwar hatte Präsident Wladimir Putin am Dienstag erklärt, die Situation im Land sei weitgehend unter Kontrolle. Allerdings vermeldete Russland am Mittwoch offiziell 33 Neuinfektionen – ein Anstieg von knapp 30 Prozent innerhalb eines Tages. Aktuell sind 199 Menschen infiziert.
Russland verzeichnete zudem seinen ersten Corona-Todesfall. Eine 79-jährige Frau sei in einem Krankenhaus in Moskau gestorben, erklärte die dortige Gesundheitsbehörde am Donnerstag. Laut des Berichts des Coronakrisenstabs, aus dem die unabhängige russische Nachrichtenseite "Meduza" zitiert, seien allerdings "keine tödlichen Folgen einer Coronavirusinfektion registriert worden". Die Frau sei an einem Blutgerinnsel gestorben.
Verwendete Quellen:
- E-Mail-Anfrage an Veronika Víchová, Evropske Hodnoty
- Meldungen der Nachrichtenagenturen AFP und dpa
- Reuters: "Russia deploying coronavirus disinformation to sow panic in West, EU document says"
- "Tagesspiegel": "Die Kampagne soll Verwirrung, Panik und Angst verschärfen"
- "Financial Times: "EU warns of pro-Kremlin disinformation campaign on coronavirus"
- "The Guardian": "Russian media 'spreading Covid-19 disinformation'"
- "EURACTIV": "Russische Corona-Desinformation für den 'heimischen Markt'?"
- "Meduza": "В России зарегистрированы 52 новых случая заражения коронавирусом"
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