Soll in Zukunft jeder Mensch nach seinem Tod ein möglicher Organspender sein – es sei denn, er hat der Entnahme zu Lebzeiten widersprochen? In der Politik gibt es mehrere Vorstöße für diese Widerspruchslösung. Doch die Diskussion berührt auch fundamentale ethische Fragen.
In der Politik mehren sich Stimmen für eine Reform der Organspende. Bisher dürfen Organe einem Menschen nach dessen Hirntod nur entnommen werden, wenn der Betroffene dieser Spende zu Lebzeiten zugestimmt hat – oder wenn die Angehörigen das akzeptieren.
Allerdings gibt es weiterhin ein Missverhältnis zwischen möglichen Spendern und Empfängern. Tausende Menschen warten derzeit in Deutschland auf ein dringend benötigtes Organ – eine Niere, eine Leber oder ein Herz. Viele von ihnen vergeblich.
Von unterschiedlichen Seiten kommen daher Vorstöße für die Einführung der "Widerspruchslösung". Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister
Falls die Widerspruchslösung wirklich eingeführt wird, würde das bedeuten: In Zukunft könnten jeder Person nach dem Hirntod Organe entnommen werden – es sei denn, sie hat der Entnahme zu Lebzeiten widersprochen.
Helge Braun: Widerspruchslösung ist "ethisch geboten"
Der Arzt, Abgeordnete und frühere Kanzleramtsminister
Braun hält es für "absolut vertretbar" und "ethisch geboten", von Menschen, die nach ihrem Tod eine Organspende explizit ablehnen, eine entsprechende Widerspruchserklärung zu verlangen. "In einer aufgeklärten Gesellschaft sollte die Bereitschaft zur Organspende der Normalfall sein und nicht der Widerspruch", sagt Braun.
Der CDU-Politiker verweist auf die niedrigen Zahlen von Spenderorganen. Im vergangenen Jahr wurden 965 Menschen nach ihrem Tod Organe entnommen, so die Zahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation. Zugleich standen aber 8.400 Menschen auf Wartelisten. "Alle Versuche der Vergangenheit, durch mildere Maßnahmen die Zahl der Erklärungen zur Organspende zu erhöhen, sind gescheitert", sagt Braun.
Ricarda Lang: "Widerspruchslösung könnte Zahl von Organspenden erhöhen"
"In Deutschland warten jeden Tag Tausende Menschen auf ein neues Organ – es muss unser gemeinsames Ziel sein, diesen Menschen zu helfen", sagt auch die Grünen-Parteivorsitzende
Ein Gesetz von 2020 sollte die Zahl der gespendeten Organe mit milderen Mitteln steigern. Lang kritisiert, dass zentrale Aspekte davon bisher nicht umgesetzt wurden. "Eine Widerspruchslösung könnte die Zahl von Organspenden deutlich erhöhen", sagt sie. Sie selbst unterstütze daher die neue Initiative. "Das ist ein Zeichen der Hoffnung für viele schwer kranke Menschen und ihre Familien in Deutschland."
Fundamentale Fragen
Die Organspende berührt fundamentale ethische Fragen, zu denen es auch in der Bevölkerung unterschiedliche Einstellungen gibt. "Wenn ich tot bin, helfen mir meine Organe nicht mehr. Sie vergammeln wie mein Körper. Dann kann sie besser ein Kranker bekommen", schreibt zum Beispiel ein 88-jähriger Leser unserer Portale.
Andere Leserinnen und Leser pochen dagegen darauf: Eine Organspende müsse eine freiwillige Entscheidung bleiben. Einigen macht der Gedanke Angst, Organe könnten womöglich vorschnell entnommen werden. Andere sagen: Die Bestimmung über den eigenen Körper gehört zur Menschenwürde – auch über den Tod hinaus.
FDP-Politikerin Helling-Plahr gegen "Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht"
Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier stehen also vor einer schwierigen Abwägung. Grünen-Chefin Lang sagt dazu: "Die Entscheidung über die beste Lösung bei der Organspende ist eine ethische Frage und sollte frei vom Fraktionszwang dem Gewissen der Abgeordneten unterliegen."
So war es auch 2020. Allerdings sprach sich damals eine Mehrheit der Abgeordneten gegen die Widerspruchslösung und für die derzeit gültige Entscheidungslösung aus. Weiterhin gibt es im Parlament viele Abgeordnete, die daran festhalten wollen. Schweigen dürfe nicht als Zustimmung gewertet werden, lautet ein Argument.
"Anstatt auf staatliche Bevormundung zu setzen, sollten wir die selbstbestimmte Entscheidung über eine Spende verbindlicher gestalten", sagte etwa die FDP-Rechtspolitikerin Katrin Helling-Plahr der Deutschen Presse-Agentur. Aus ihrer Sicht wäre die Widerspruchslösung ein "Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht jedes Einzelnen".
Auf jeden Fall ist Bewegung in die Sache gekommen. Die Befürworter der Widerspruchslösung sind sozusagen in die Offensive gegangen. Im Bundestag könnte es aber noch Initiativen für Gegenvorschläge geben. Im Ziel ist man sich ja einig: Die Zahl der gespendeten Organe muss steigen.
Verwendete Quellen
- Stellungnahme von Helge Braun
- Stellungnahme von Ricarda Lang
- Material der dpa
- dso.de: Organspendezahlen in 2023 auf leichtem Erholungskurs
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