Die Europäische Kommission will das Internet stärker überwachen, um besser gegen Kindesmissbrauch vorzugehen. Die Verhandlungen über die sogenannte Chatkontrolle sind beinahe abgeschlossen. Doch Kritiker warnen vor massiven Grundrechtseingriffen.

Eine Analyse
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Für die Befürworter des Plans ist es eine sinnvolle Maßnahme gegen Kindesmissbrauch. Gegner halten ihn dagegen für einen Dammbruch in der digitalen Überwachung europäischer Bürger. In diesen Tagen gehen die Verhandlungen über die von der EU-Kommission vorgeschlagene Verordnung "zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern" auf die Zielgerade ein.

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Nun mobilisieren die Kritiker erneut gegen die sogenannte Chatkontrolle. Der Europaabgeordnete Moritz Körner (FDP) sieht sogar "chinesische Verhältnisse" in der EU einziehen, sollte das Vorhaben nicht abgewendet werden. Bekommt die Verordnung in EU-Parlament und Europäischem Rat eine Mehrheit, könnte sie auch vom deutschen Bundestag nicht mehr verhindert werden.

Private Nachrichten sollen durchsucht werden

Den ersten Entwurf der Verordnung hatte die Kommission bereits im Mai vergangenen Jahres vorgestellt. Demnach sollen weitreichende Möglichkeiten geschaffen werden, leichter gegen Kindesmissbrauch und Kinderpornografie im Internet vorzugehen.

Umstritten war von Anfang vor allem ein Aspekt des Entwurfs: Betreiber von sozialen Netzwerken und Messengern wie WhatsApp, Instagram oder Signal sollen verpflichtet werden, die Nachrichten ihre Nutzer systematisch nach entsprechenden Inhalten zu durchsuchen – und das anlasslos und unter Umgehung von Verschlüsselungstechnologie.

Justizminister Buschmann hält Vorhaben für "kontraproduktiv"

Dagegen regte sich Widerstand. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) unterschrieb im Mai dieses Jahres zusammen mit anderen europäischen Justizministern einen Brief gegen das Vorhaben. Darin heißt es, dass "der Schutz der Bevölkerung vor anlassloser Überwachung ein hohes demokratisches Gut" sei. Die geplante Verordnung halte nicht "die richtige Balance" und sei "möglicherweise sogar für den Kinderschutz kontraproduktiv." Demnach sei die verfügbare Technologie noch zu ungenau und führe zu zahlreichen Fehlmeldungen. Die Folge könnte eine Überlastung der Strafverfolgungsbehörden sein.

In dem Brief wird auch auf zwei EU-eigene Gutachten Bezug genommen. Sowohl der Juristische Dienst des Europäischen Rates als auch der Wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments kommen zu dem Schluss: Die geplante Chatkontrolle würde gegen das Recht der Bürger auf den Schutz ihrer Privatsphäre und ihre personenbezogenen Daten verstoßen. Dennoch nimmt der Prozess zur Implementierung der Verordnung in den EU-Institutionen seinen Lauf.

FDP-Politiker Körner: "Es gibt weiter Widerstand gegen das Vorhaben"

"Derzeit finden die finalen Verhandlungen im Parlament und im Rat statt", sagt der Europaabgeordnete Moritz Körner (FDP) im Gespräch mit unserer Redaktion. Bereits in diesem Monat könnten die ersten Hürden auf dem Weg zur Chatkontrolle genommen werden. Planmäßig soll die Verordnung noch vor der Europawahl im Juni beschlossene Sache sein.

Für Körner ein Schreckensszenario: "In Europa drohen dann chinesische Verhältnisse." Mit europäischen Werten, so der FDP-Politiker, habe das "nichts zu tun". Zu spät für eine Kehrtwende sei es aber noch nicht, glaubt Körner. Er schätzt, dass es in den EU-Institutionen derzeit nur eine knappe Mehrheit für die Verordnung in ihrer jetzigen Form gibt. Zudem: "Es gibt weiter Widerstand gegen das Vorhaben, auch aus Deutschland."

Bundesinnenministerium sieht Verbesserungsbedarf

Zwar war es in der Ampel-Koalition vor allem die FDP, die in der Vergangenheit Bedenken gegen die EU-Verordnung angemeldet hat. Doch auch das SPD-geführte Bundesinnenministerium, das bei den Verhandlungen über die Chatkontrolle federführend ist, sieht Verbesserungsbedarf beim aktuellen Entwurf.

"Maßnahmen, die zu einem Bruch, einer Schwächung, einer Modifikation oder einer Umgehung von Ende-zu-Ende-verschlüsselter Kommunikation führen, schließen wir ausdrücklich aus", erklärte eine Sprecherin des Ministeriums auf Anfrage unserer Redaktion. Entsprechende Forderungen habe man Brüssel übermittelt. Die Bundesregierung wolle sich "auch weiterhin aktiv in die Verhandlungen auf EU-Ebene einbringen", sagt die Sprecherin. Das letzte Wort, so die Botschaft, ist hier noch nicht gesprochen.

CDU-Politiker Throm: "FDP geht Datenschutz vor Opferschutz"

In der größten Oppositionspartei des Bundestages teilen indes nicht alle die Skepsis der Bundesregierung. Der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Alexander Throm, verweist auf Anfrage unserer Redaktion auf den großen Handlungsbedarf, den es beim Thema Kindesmissbrauch gebe. "Erfreulicherweise zeigt der Vorschlag der Kommission, dass sie ebenfalls Handlungsbedarf sieht", sagt Throm. Er wirft der Bundesregierung vor, bei der Bekämpfung einschlägiger Straftaten im Netz zu versagen. "Insbesondere der FDP geht Datenschutz vor Opferschutz und die Ampel ist auch bei dieser Frage heillos zerstritten", sagt der Unionspolitiker.

Doch auch aus der Zivilgesellschaft kommt Einspruch gegen die geplante EU-Verordnung. Im Netz lassen sich viele Petitionen gegen die Chatkontrolle finden, die regen Anklang finden. Den Appell des Kampagnenträgers "Campact" haben 165.000 Menschen unterschrieben und dem Bündnis "Stop Scanning Me" sind über 120 zivilgesellschaftliche Organisationen beigetreten.

JuLis setzen ChatGPT für ihren Protest ein

Die Jungen Liberalen (JuLis), die Nachwuchsorganisation der FDP, probieren nun eine Form des Protests aus: Sie haben die Internetseite stopchatcontrol.eu gestartet, auf der EU-Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gegeben wird, ihren Europaabgeordneten eine Beschwerde zu schicken – und zwar in jeder europäischen Sprache. Mithilfe von ChatGPT wird ein vorformulierter Text übersetzt und zugleich die Mailadresse des zuständigen Abgeordneten für das jeweilige Land mitgenannt.

In einem begleitenden Video taucht auch der Europaabgeordnete Moritz Körner auf: Zusammen mit der Vorsitzenden der JuLis, Franziska Brandmann, erläutert er seine Argumente gegen die Chatkontrolle. Die sei der "größte Angriff auf unsere Bürgerrechte seit Jahrzehnten", behauptet Körner in dem kurzen Clip. "Wir müssen in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union gegen diesen Vorschlag mobil machen."

Ob es gelingen wird, genügend Europa-Abgeordnete von den Einwänden gegen die Verordnung zu überzeugen, wird sich bald zeigen. Das Europäische Parlament will Anfang Oktober Stellung zur geplanten Chatkontrolle beziehen. Fällt das Vorhaben dort durch, müssten seine Befürworter wohl deutliche Zugeständnisse machen, bevor es erneut auf die Tagesordnung kommen kann.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit dem Europaabgeordneten Moritz Körner (FDP)
  • Stellungnahme Bundesinnenministerium
  • Stellungnahme vom Bundestagsabgeordneten Alexander Throm
  • Brief zur Chatkontrolle, unterzeichnet von Marco Buschmann (FDP)
  • Kampagnen-Seite der Jungen Liberalen
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