Ampel-Koalition vor Aus? Christian Lindner erinnert mit seinem Vorgehen an das Lambsdorff-Papier. 1982 sprengte der FDP-Wirtschaftsminister die Koalition mit der SPD. Hat auch Lindners Schreiben das Zeug zum Scheidungsbrief?

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Nach dem Gegengipfel das Gegenkonzept. Finanzminister Christian Lindner (FDP) dringt auf eine Wirtschaftswende in Deutschland. Das allein wäre wenig aufregend, schließlich war das der Tenor des jüngsten Parteitags der Liberalen. Brisant ist das Lindner-Papier, weil es eine grundsätzliche Analyse der deutschen Wachstumsschwäche mit konkreten Handlungsempfehlungen verbindet. Ältere Semester dürften sich unwillkürlich an seinen Parteifreund Otto Graf Lambsdorff erinnern.

1982 schrieb der damalige Wirtschaftsminister für Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) auf, was die sozial-liberale Regierung tun müsste, um Investitionen anzuregen, mehr Arbeit zu schaffen und den Bundeshaushalt samt Sozialversicherungen zu konsolidieren.

Genau das ist die aktuelle Stoßrichtung Lindners "Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit". Das Lambsdorff-Papier führte seinerzeit zügig zum Ende von Schmidts Kanzlerschaft. Wenige Tage nach seiner Vorlage traten die FDP-Minister geschlossen zurück. Keine drei Wochen später wurde Helmut Kohl (CDU) mit den Summen der FDP nächster Bundeskanzler.

Ein Scheidungsbrief?

Anders als damals hat die FDP im Jahr 2024 nicht die Option, sich den nächsten Partner aussuchen zu können, um mit ihm weiter zu regieren und dabei eigene Vorstellungen verstärkt durchzusetzen.

Dennoch kursiert in Berlin die Einschätzung, das Lindner-Papier habe das Zeug zum Scheidungsbrief. Das liegt zum einen an der schonungslosen Analyse, die brutal alles in Frage stellt, für was SPD und Grüne in der Wirtschaftspolitik stehen.

Das Ganze wird angereichert mit konkreten Empfehlungen, die die beiden Noch-Partner, wie man nun wohl sagen muss, nicht akzeptieren können, ohne ihre ganzes Handeln und Denken in Frage zu stellen. Man könnte dies gezielte Provokationen nennen, andere Beobachter sprechen schlicht von Gemeinheiten.

Am Anfang steht Lindners Kernaussage: Deutschland schwächst sich selbst. Ein Dickicht aus Regulierung und Bürokratie lähme die Innovationskraft und den Unternehmergeist. Zudem werde in Deutschland zu wenig gearbeitet. Das Ausscheiden der Baby-Boomer aus dem Erwerbsleben verschärfe das Problem. Und der deutsche Sonderweg beim Klimaschutz (CO2-Neutralität schon 2045 statt 2050 wie sonst in der EU) mache einen Teil des produktiven Kapitalstocks vorzeitig wertlos und verteure Energie stark. "Ohne ambitionierte Maßnahmen, die das Potentialwachstum wieder erhöhen, dürfte das Primat solider Staatsfinanzen eine noch stärkere Absenkung des mittel- und langfristigen Ausgabenwachstums erfordern", befindet der FDP-Politiker.

In der Folge unterscheidet der Finanzminister zwei Denkschulden. Die erste setze maßgeblich "auf staatliche Technologieselektion und die damit verbundene Lenkung des Ressourceneinsatzes vorrangig durch Verbote und Subventionen". Der Leser muss in der Folge unweigerlich an Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) denken. Die Wirtschaft solle sich an den Vorstellungen und Zukunftsideen der Politik ausrichten, schreibt Lindner dazu weiter. "Dieser Ansatz bestimmt zentral festgelegte ,Transformationen’, welche die Gesellschaft durch staatliche Lenkung durchlaufen soll."

Lindners eigenes Denken

Dies sei oft durch den Wunsch begleitet, bestehende Strukturen und Industrien zu konservieren und vor dem internationalen Wettbewerb abzuschirmen, beispielsweise durch einen "Industriestrompreis" oder Abwrackprämien zugunsten von E-Autos. Diese Industriepolitik konzentriere sich traditionell auf größere Unternehmen meist auch mit den stärksten Interessenvertretungen (wie Intel oder Thyssenkrupp), vernachlässige hingegen den Mittelstand, das Handwerk und insbesondere neue und junge Unternehmen. Die umfassenden (Dauer-)Subventionen gefährdeten die Solidität der öffentlichen Finanzen.

Die zweite Denkschule setzt nach seinen Worten "auf das deutsche Erfolgsrezept, durch eine Verbesserung der allgemeinen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen die Attraktivität, Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft des Wirtschaftsstandorts umfassend und technologieoffen zu stärken".

Es ist unmissverständlich: Letzteres ist Lindners eigenes Denken. Der Ansatz sei kleinteiliger und ergebnisoffen; er widerspreche oft den Erwartungen nach "schnellen Lösungen" oder einem "Pakt". Das ist eine Spitze gegen die Runden im Kanzleramt mit Gewerkschaften und Industrievertretern. Den Scholz-Gipfeln entgegnet die FDP schon mit eigenen Gesprächszirkeln, zu denen sie Wirtschaftsvertretern einlädt, die der Kanzler ignoriert.

Lindner fordert in seinem Papier, neue Regulierungen sofort zu stoppen. Konkret spießt er auf: Tariftreuegesetz, Lieferkettengesetz, Entgelttransparenzgesetz, Beschäftigtendatengesetz, die arbeitgeberfinanzierte Familienstartzeit. "Sie alle passen in der aktuell diskutierten Form nicht zu den Herausforderungen des aktuellen wirtschaftlichen Umfelds." In der EU sollte Deutschland auf die Abschaffung der Berichts- und Nachweispflichten aus dem "Green Deal" dringen.

Krasser Widerspruch zu Habeck

Um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland zu verbessern, will der Finanzminister den Solidaritätszuschlag schon 2025 um 2,5 Prozentpunkte auf 3 Prozent senken. "In einem zweiten Schritt könnte er im Jahr 2027 dann vollständig entfallen." Zudem sollte die Körperschaftsteuer schon nächstes um zwei Prozentpunkte reduziert werden. Weitere Schritte sollten spätestens in 2027 und 2029 folgen. Lindners erklärtes Ziel: die Belastung der Unternehmen mittelfristig "zumindest auf 25 Prozent" zu drücken (von heute fast 30 Prozent).

"Relativ ambitionierte nationale Klimaziele führen im europäischen Emissionshandel nicht zu einer schnelleren Erreichung europäischer Ziele, sondern lediglich zu einer Reduktion der notwendigen Anstrengungen anderer Mitgliedstaaten."

Aus dem Lindner-Papier

Was der FDP-Politiker zum Klimaschutz sagt, steht im krassem Widerspruch zu allem, was der Wirtschaftsminister macht. Deutschlands Anteil an den weltweiten CO2-Emissionen betrage nur 1,3 Prozent, konstatiert Lindner. Ein wirksamer Klimaschutz dürfe sich daher nicht auf nationale Maßnahmen konzentrieren, sondern müsse globale Anstrengungen im Fokus haben. "Es hilft dem Klimaschutz nicht, wenn Deutschland als vermeintlicher globaler Vorreiter möglichst schnell und folglich mit vermeidbaren wirtschaftlichen Schäden und politischen Verwerfungen versucht, seine Volkswirtschaft klimaneutral aufzustellen."

Weiter heißt es im Text unterstrichen: "Relativ ambitionierte nationale Klimaziele führen im europäischen Emissionshandel jedoch nicht zu einer schnelleren Erreichung europäischer Ziele, sondern lediglich zu einer Reduktion der notwendigen Anstrengungen anderer Mitgliedstaaten." Daher sollten die nationalen Ziele, wie die nationalen Zwischenziele, durch die europäischen Ziele ersetzt werden. Zusätzliche sektorbezogene Regelungen seien nicht notwendig; sie verteuerten nur die Dekarbonisierung.

Lindner will Klima- und Transformationsfonds auflösen

Klimapolitisch motivierte Dauersubventionen will Lindner abschaffen und den Klima- und Transformationsfonds auflösen. Einen gesetzlich festgelegten Zeitpunkt für den Kohleausstieg hält er für verzichtbar. "Zusätzliche Subventionen auf nationaler Ebene sind ebenfalls nicht notwendig und führen innerhalb der Emissionshandelssysteme lediglich zu einer Umverteilung von Wohlstand zwischen EU-Mitgliedstaaten."

Die Förderung der Erneuerbaren Energien (EEG) hat nach den Worten des FDP-Politikers mittlerweile untragbare finanzielle Dimensionen erreicht, "obwohl diese Förderung in einem europäischen Emissionshandelssystem nicht zu zusätzlichen Emissionseinsparungen führt". Daher will er die staatlich garantierten Ausbaupfade sowie Vergütungen in den nächsten Jahren auf Null senken. Auf europäischer Ebene sollte Deutschland "insbesondere die Abschaffung der Regulierungen zur Energieeffizienz, Gebäudeenergieeffizienz und der Flottengrenzwerte" durchsetzen.

Nach dieser insbesondere für die Grünen schmerzhaften Passage wendet sich Lindner der Arbeitsmarktpolitik zu. Was hier einfordert, dürfte vor allem für Sozialdemokraten kaum verdaulich sein. Er verlangt mehr Anreize, damit sich Arbeit mehr lohne. Mit Blick auf das Bürgergeld und andere Sozialleistungen konstatiert er: "Individuelle Schlechterstellungen gegenüber dem Status Quo sind dabei unvermeidlich, aber im Sinne von Aktivierung und Anreizorientierung auch zu begrüßen." Die gesetzlichen Vorgaben zur Arbeitszeit will der FDP-Vorsitzende flexibler ausgestaltet sehen, "um das Potenzial des Arbeitsmarkts zu heben". Er dringt auf eine "Eindämmung des Anstiegs" der Sozialversicherungsbeiträge, bleibt aber hier letztlich recht vage. Von einer Senkung wagt auch er nicht zu sprechen.

Ist das Papier durch "Indiskretion" öffentlich geworden?

Mit Blick auf den Haushalt 2025 verlangt Lindner, die Lücken ohne Steuererhöhungen zu schließen. In der Asylpolitik dringt er darauf, subsidiär Schutzberechtigten nicht die üblichen Sozialleistungen zu gewähren .Das Bürgergeld sei zu stark gestiegen. Um Arbeitsanreize zu stärken, sollte man es senken, indem man die "Besitzstandsregelung" abschaffe. Bedarfe für Unterkunft und Heizung will der Minister nur noch pauschal abdecken.

Zustimmung der Koalitionspartner ist bei diesen Inhalten nicht zu erwarten, begeistert zeigten sich hingegen die Familienunternehmer. Verbandspräsidentin Marie-Christine Ostermann bescheinigte Lindner eine "in sich schlüssige Reformpolitik". Wenn die Ampel alle Vorschläge verwirkliche, komme Deutschland schnell wieder auf Kurs. "Wenn nicht, dann muss die jetzige Stillstandskoalition beendet werden."

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Lindner schrieb nach Bekanntwerden seines Konzepts noch am Freitag seinen Parteifreunden, das Papier sollte zunächst nur im engsten Kreis der Bundesregierung beraten werden. Es sei "durch eine Indiskretion anderswo" öffentlich geworden. Auch das deutet auf ein massiv gestörtes Verhältnis.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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