Ein Urnengang mit viel Verantwortung: Kein anderer Staat der Welt kennt auf nationaler Ebene so weitgehende direkte Volksrechte wie die Schweiz. Soll das Abkommen zur Personenfreizügigkeit gekündigt werden? Darüber entscheiden die Schweizer am 27. September. Bei einem "Ja" drohen dramatische Konsequenzen.
Wer schon einmal mit dem Auto in den Schweiz-Urlaub gefahren ist, der weiß: Lange Staus erwarten Ausländer an den Schweizer Grenzen nicht. Denn das kleine Land - mitten zwischen Deutschland, Frankreich, Österreich, Liechtenstein und Italien – ist zwar kein EU-Mitglied, ein Abkommen zur Personenfreizügigkeit gibt es dennoch und somit keine Grenzkontrollen. Ein Grund, warum auch Italien- oder Frankreichurlauber nicht selten eine Route durch die Schweiz wählen.
Das könnte bald bedeutend aufwändiger sein, sollte die Mehrheit der Schweizer am 27. September mit "Ja" stimmen. Dann wird über die Begrenzungsinitiative, die die Schweizerische Volkspartei SVP lanciert hat, entschieden.
Darin fordert sie, dass der Schweizer Bundesrat mit der EU die Beendigung des Abkommens zum freien Personenverkehr (FZA) aushandelt.
Die SVP, die aus dem Verhältnis zu Fremden seit Mitte der 1990er Jahre politisches Kapital schlägt, will so vor allem die Zuwanderung von Ausländern aus der EU regeln.
Schon 2014 hatte es auf Initiative der SVP hin eine Abstimmung zur Masseneinwanderung gegeben. 50,3 Prozent der Schweizer entschieden damals mit "Ja" und beauftragten den Gesetzgeber, die Zuwanderung mithilfe einer Obergrenze zu regeln – einschließlich der Änderung dem widersprechender Staatsverträge, also auch dem FZA.
Innerhalb von drei Jahren sollten auch Höchstzahlen und Kontingente für Aufenthaltsbewilligungen von EU-Angehörigen eingeführt werden.
Die EU war aber bislang nicht bereit, solche Verhandlungen aufzunehmen und die Schweizer Verfassung sah keine Regel für diesen Fall vor. Die SVP spricht deshalb von "Verfassungsbruch" und will mit der neuen Initiative einen verbindlichen Auftrag erteilen, das FZA zu kündigen.
Dramatische Konsequenzen
Was aber würde das für die Beziehungen zur EU und den Mitgliedsländern bedeuten? "Eine Annahme der Initiative wäre katastrophal", sagt Politikwissenschaftler Prof. Dr. Pascal Sciarini von der Universität Genf.
Er warnt: "Durch die Guillotine-Klausel, nach der entweder das ganze Vertragspaket gilt oder keiner der Unterverträge, würden auch die sechs weiteren bilateralen Verträge gekündigt!“.
Darin sind Vereinbarungen zu technischen Handelshemmnissen sowie Land- und Luftverkehr getroffen. Sciarini ist sicher: "Die Schweiz braucht die EU viel mehr als andersherum, die wirtschaftlichen Folgen wären verheerend!"
Enge wirtschaftliche Verflechtung mit der EU
Mit etwa 60 Prozent des Schweizer Handelsvolumens ist die EU gemäß der Schweizer Eidgenossenschaft tatsächlich der wichtigste Handelspartner des Alpenlandes - vor allem Deutschland (22 Prozent), Italien (8 Prozent) und Frankreich (7 Prozent) tragen dazu bei.
Aber auch auf Seiten der EU steht die Schweiz hoch im Kurs: 2018 war die Schweiz nach den USA und China das wichtigste Zielland für Warenausfuhren.
"Die EU hätte bestimmt keinen großen Willen mehr, überhaupt mit der Schweiz zu verhandeln, wenn wir die Initiative annehmen", fürchtet Experte Sciarini.
Auswirkungen für Grenzgänger
Als eins der weltweit reichsten Länder lockt die Schweiz mit hohen Löhnen viele Arbeiter aus den Grenzregionen auf ihren Arbeitsmarkt. Von Freiburg sind Pendler mit der Bahn weniger als eine Stunde in die Schweiz unterwegs. Sciarini meint: "Die Beziehungen zu unseren direkten Nachbarn würden deshalb am meisten leiden."
Laut Schweizer Bundesamt für Statistik stieg die Zahl der Grenzgänger zwischen 2011 und 2016 um mehr als ein Viertel auf etwa 320.000 und nahm in der Zeit danach leicht wieder ab. Mehr als die Hälfte stammt aus Frankreich, knapp 20 Prozent aus Deutschland. "Grenzgänger könnten künftig nur hier arbeiten, wenn die Quote für Fremdarbeiter nicht überschritten ist", warnt Sciarini.
EU-Skepsis variiert im Land
Der Schweizer Bürger Urs Weber will Ende September mit "Nein" stimmen. Er betont: "Die Personenfreizügigkeit ist für unsere Wirtschaft und Firmen in der Schweiz sehr wichtig, um fehlende qualifizierte Arbeitskräfte in die Schweiz zu holen."
In vielen Kantonen aber ist die Frage der Grenzgänger äußerst sensibel, weil es um Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt geht. "Generell variiert deshalb das Verhältnis zu EU-Bürgern von Tessin bis Zürich und von Graubünden bis Waadt", erklärt Sciarini. Er betont: "Wir Schweizer fühlen uns als Europäer, auch wenn wir nicht in der EU sind."
In den Kantonen mit Grenzen zu Nachbarländern seien die Bürger aber deutlich kritischer eingestellt, als in Kantonen im Inland.
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"Einwanderung ins Land ist seit 2014 stark gesunken"
Im Tessin macht der Anteil der Grenzgänger an allen Erwerbstätigen 27,3 Prozent aus. In Zürich gab es bereits Debatten über zu viele deutsche Professoren an Universität und Hochschule.
Wähler Urs Weber sagt dennoch: "Die Einwanderung ins Land ist seit 2014 stark gesunken und stellt kein großes Problem dar."
Die SVP sei bekannt dafür, Probleme unzulässig zu vereinfachen und Patentrezepte anzubieten, deren Konsequenzen weitreichender seien als kommuniziert.
Grenzkontrollen und Staus
Auch Touristen müssten sich bei einem "Ja" wohl auf Staus einstellen: "Zwar ist das Dublin-Schengen-Abkommen, welches die Zusammenarbeit in Sachen Justiz, Polizei, Visa und Asyl regelt und Kontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft hat, noch einmal etwas anderes als das Abkommen über Personenfreizügigkeit, dennoch müsste seine Kündigung zwangsläufig zu Grenzkontrollen führen – mit Konsequenzen auch für Urlauber", analysiert Sciarini.
Er sagt weiter: "Es wäre zwar prinzipiell immer noch möglich, Urlaub in der Schweiz zu machen oder sie als Transitland zu nutzen, aber es gäbe definitiv neue administrative Hindernisse."
Annahme ist unwahrscheinlich
Die Umfragen signalisieren jedoch Entwarnung: So wie Weber werden wohl die meisten Schweizer entscheiden. Laut Schweizer Radio- und Fernsehgesellschaft (SFR) wollen nur 35 Prozent für die Begrenzungsinitiative stimmen, mit 63 Prozent lehnen fast zwei Drittel der Bevölkerung die Initiative ab.
Auch Sciarini schätzt: "Die Chancen sind niedrig. Im Unterschied zu 2014 konnten wir mittlerweile prüfen, inwieweit die EU bereit ist, einen speziellen Vertrag mit der Schweiz zu schließen." Man wisse jetzt, dass die EU überhaupt nicht bereit sei, ein solches Abkommen zu schließen.
"Damals konnte man vielleicht noch glauben, dass eine besondere Lösung mit der EU möglich wäre, aber jetzt wissen wir klar, dass es keine solche besondere Lösung gäbe – entweder die Freizügigkeit wird voll und ganz akzeptiert, oder nicht", erläutert der Experte.
Aufwind für Rahmenabkommen?
Ein Gradmesser für die Stimmung in der Bevölkerung wird die Initiative in jedem Fall sein. "Zwar gibt es in der direkten Demokratie nur ein Ja oder Nein, aber auch das kann man interpretieren“, erinnert Politikwissenschaftler Prof. Dr. Marc Bühlmann von der Universität Bern.
"Die europafreundlichen Kreise erhoffen sich ein relativ deutliches Nein. Man könnte es nämlich so interpretieren, dass die Leute die Beziehungen zur EU nicht nur aufrechterhalten, sondern weitertreiben wollen", erklärt Bühlmann. Das könnte auch dem Rahmenabkommen EU-Schweiz, über das seit 2014 verhandelt wird, neuen Aufwind geben.
"Andererseits könnte die Regierung mit einem sehr knappen Nein in die Verhandlungen gehen und sagen: ‚Wir brauchen bessere Bedingungen, sonst fehlt uns der Rückhalt in der Bevölkerung‘", so Bühlmann weiter.
Bürger Urs Weber nennt solche Bedingungen: "Ein wirksamer Schutz gegen Lohndumping mit flankierenden Maßnahmen und eine gerechte Regelung der Gerichtsbarkeit bei wirtschaftlichen Streitfällen. Es kann nicht sein, dass nur die EU einseitig als höchste Instanz entscheidet", betont er.
Falsches Bild der direkten Demokratie
Für den unwahrscheinlichen Fall eines "Ja" stellt Experte Bühlmann klar: "Auch wenn eine Annahme der Begrenzungsinitiative im Ausland so aussähe, als würden die bösen Schweizer 'Nein' zu Europa sagen – was hinten herauskäme, sähe viel abgeschwächter aus." Das Bild, welches im Ausland von der schweizerischen Verfassung herrsche, sei zu einfach.
"Wir haben ein Zusammenspiel aus direkter und repräsentativer Demokratie", erinnert Bühlmann. Bei einem "Ja" würde zunächst eine Diskussion im Parlament und Bundesrat folgen. "Die Initiative müsste erst noch in einen Gesetzestext übersetzt werden und hier haben Parlament und Bundesrat Spielraum", so Bühlmann.
Als beispielsweise 1993 von den rechtspopulistischen Schweizer Demokraten (SD) gefordert wurde, den 1. August zum Nationalfeiertag zu machen und die Schweizer die Initiative annahmen, hätten Bundesrat und Parlament die Initiative zur Unzufriedenheit der Initiatoren umgesetzt: Der 1. August wurde Feiertag, Unternehmen blieb aber vorerst die Entscheidung überlassen, ob es sich um einen bezahlten oder unbezahlten Feiertag handelt. "Auch diesmal würden Bundesrat und Parlament sicherlich einen Umweg finden", schätzt Bühlmann.
Verwendete Quellen:
- Schweizerische Eidgenossenschaft - Departement für auswärtige Angelegenheiten: "Schweiz-EU in Zahlen"
- Europäisches Parlament.de: "Die europäische Union und ihre Handelspartner"
- Schweizer Bundesamt für Statistik: "Grenzgängerstatistik"
- SRF.de: "Umfrage zu den Abstimmungen – Klares Nein. Nur SVP Wähler stimmen für Begrenzungsinitiative"
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