Er ist Griechenlands ehemaliger Finanzminister, Ökonomie-Professor, Buchautor und bekannt als notorischer Sparpolitik-Gegner: Yanis Varoufakis. Nun betritt der 58-Jährige die politische Bühne erneut: Er kandidiert für einen Sitz im EU-Parlament - als Vertreter Deutschlands. Die Bewegung "Diem25" schickt ihn auf Listenplatz 1 ins Rennen. Was steckt hinter der Bewegung, warum kann ein Grieche für Deutschland kandidieren und wie stehen Varoufakis Chancen?

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So ganz vergessen hat man ihn nie, auch wenn es ruhiger geworden ist um den lauten Yanis Varoufakis - den "griechischen Anti-Merkel", den "Kurzzeit-Finanzminister", den "Gegenspieler" von Wolfgang Schäuble. Provokant, selbstbewusst, wortgewaltig – so dürfte Varoufakis den meisten Deutschen in Erinnerung geblieben sein.

Vier Jahre ist es her, dass der Wirtschaftswissenschaftler 2015 nach nur sechsmonatiger Amtszeit als griechischer Finanzminister zurücktrat. Auch nach seinem Rücktritt hat er weiter Stimmung gemacht gegen das "deutsche Spardiktat" gegenüber der "Schuldenkolonie" Griechenland.

Die Tatsache, dass Varoufakis bei den Europawahlen am 26. Mai als Spitzenkandidat für "Demokratie in Europa - Diem25" in Deutschland an den Start geht, überrascht daher umso mehr. Wieso kandidiert der Grieche mit dem Image als Deutschland-Gegner hier? Und: Wie ist es überhaupt möglich, dass Varoufakis als Grieche in Deutschland kandidieren kann?

Deutscher Pass für Kandidatur nicht nötig

Zunächst zum rechtlichen Teil: Die Europäische Kommission informiert auf ihrer Website über die Voraussetzungen, um bei Wahlen zum EU-Parlament abstimmen oder kandidieren zu können.

Allgemein gilt: "Bei einer Wahl zum Europäischen Parlament können Sie nur in einem Land kandidieren", ansonsten können EU-Bürger "unter denselben Voraussetzungen wie Staatsangehörige Ihres Gastlandes kandidieren".

Varoufakis hat Wohnsitz in Berlin

Voraussetzung für eine Kandidatur in Deutschland ist demnach nicht etwa die deutsche Staatsbürgerschaft, sondern die Unionsbürgerschaft sowie ein Wohnsitz in Deutschland, die Vollendung des 18. Lebensjahres, kein Ausschluss vom passiven Wahlrecht sowie seit mindestens drei Monaten ein "ständiger Aufenthalt in Deutschland oder den übrigen Mitgliedsstaaten der EU".

Nach eigener Aussage hat der Linkspolitiker mit griechisch-australischer Staatsbürgerschaft einen Wohnsitz in Berlin und erfüllt damit die formalen Voraussetzungen für eine Kandidatur.

Überzeugend europäisch handeln

Dass er aber gerade in Deutschland antritt, hat auch bewusste Signalwirkung. "DiEM25", kurz für "Democracy in Europe Movement", bezeichnet sich selbst auf ihrer Website als "europaweite, grenzüberschreitende Bewegung von Demokraten". Als transnationales Bündnis will "DiEM25" zeigen, wie "europäisch" geht.

Auf der deutschen Website von "DiEM25" wird die transnationale Liste mit Kandidaten aus sieben Ländern mit den folgenden Worten vorgestellt: "Wir sind proeuropäisch – und das meinen wir wirklich so. Deshalb haben wir tausende Menschen aus ganz Europa gefragt, wer uns in Brüssel vertreten soll. Als Ergebnis treten in Deutschland zwanzig großartige Menschen für uns an – natürlich aus ganz Europa."

Aber der Reihe nach: Was ist Diem25?

Mehr als 100.000 Mitglieder

Erstmals vorgestellt wurde "DiEM25" von Yanis Varoufakis im Februar 2016 in der Volksbühne in Berlin. Weiterer Gründer ist der kroatische Philosoph Srécko Horvat, auch der bekannte Linguist Noam Chomsky gehört der Bewegung an. Zum damaligen Event kamen über 1.200 Besucher, aktuell spricht DiEM25 auf seiner Website von "mehr als 114.000 Mitgliedern in mehr als 195 Ländern und Gebieten".

"DiEM25" hat mehrere nationale Ableger, unter anderem in Italien, Griechenland, Spanien und Portugal, und organisiert sich in Ausschüssen, Gremien und spontanen Kollektiven. In Deutschland wurde "Demokratie in Europa – DiEM25" im Juni 2018 gegründet, der Politikwissenschaftler Jasper Finkeldey ist Vorsitzender.

Zusammenschluss mit anderen Parteien

Für die Europawahl wiederum schließt sich "DiEM25" mit anderen politischen Parteien, Partnerorganisationen und Bewegungen in verschiedenen europäischen Ländern für eine Kandidatur zusammen. In Deutschland wird "DiEM25" von den proeuropäischen und linksliberalen Kleinparteien "Demokratie in Bewegung" und der bayrischen Kleinpartei "mut" unterstützt.

Neben Spitzenkandidat Yanis Varoufakis stehen beispielsweise die Ökonomin Daniela Platsch, der Philosoph Horvat und Start-up-Coach Bianca Praetorius auf der Kandidatenliste.

Grüne, radikale und liberale Linke

Laut eigenen Angaben entspringt "DiEM25" unterschiedlichen politischen Traditionen. Trotz unterschiedlicher inhaltlicher Standpunkte schließen sich Grüne, radikale und liberale Linke zusammen, um die "Europäische Union zu demokratisieren" und "gemeinsam gegen das europäische Establishment zu kämpfen, das die Demokratie zutiefst verachtet."

"DiEM25" schreibt: "Wir glauben, dass die Europäische Union
dabei ist zu zerfallen. Die Europäer verlieren ihren Glauben an die Möglichkeit, europäische Lösungen für europäische Probleme zu finden." Man beobachte einen Anstieg von Menschenverachtung, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus und befürchte "eine Rückkehr zu den 1930er Jahren".

Alternative zum Zerfall

Von einem "Wir, die Regierungen" und "Wir, die Technokraten" wolle man zu einem Europa nach dem Motto "Wir, die Völker Europas" gelangen. "DiEM25" will den Ausweg aus zwei möglichen Zukunftsszenarien darstellen: Zwischen dem "Rückzug in den Kokon unserer Nationalstaaten" und der "Unterwerfung unter Brüssels demokratiefreie Zone" müsse es noch einen anderen Weg geben, meint "DiEM25".

Varoufakis selbst bezeichnet diesen dritten Weg als "paneuropäische, progressive Alternative zu den Kräften des autoritären Establishments und deren Folgen – der Nationalistischen Internationalen".

Man müsse den Irrglauben aufklären, dass Europa von einem Nord-Süd-Konflikt getrieben werde. Vielmehr arbeiteten autoritäre, patriarchalische und oligarchische Kräfte gegen eine progressive Gesellschaft.

Genauer Zeitplan mit Forderungen

Wie genau soll dieser Weg in den Augen von "DiEM25" beschritten werden? Vom lateinischen Spruch "Carpe Diem – Nutze den Tag" lässt sich "Diem25" dabei inspirieren und hat sich einen genauen Zeitplan gesteckt. Bis 2025 sollen vier Durchbrüche Europa zu einer demokratischen und funktionierenden Gemeinschaft verhelfen.

Dazu brauche die EU gemeinsame Antworten auf die fünf Krisen: Schuldenkrise, Bankenkrise,
Armut, geringe Investitionen und Migration. Wie gewohnt ist der Tonfall von Varoufakis dabei dramatisch. Eine "Herrschaft der Menschen Europas" sei der gemeinsame "Alptraum" der Brüsseler Bürokratie sowie ihrer "Eingreiftrupps und der Troika".

Als Sofortmaßnahmen fordert die Bewegung mehr Transparenz bei der Entscheidungsfindung in der EU. So sollen etwa Sitzungen des EU-Rats live im Netz gestreamt werden, Sitzungsprotokolle und Verhandlungsdokumente innerhalb weniger Wochen veröffentlicht werden.

Mehr Transparenz und EU-Verfassung

Weiter fordert "DiEM25" ein Lobbyisten-Register sowie Investitionen von europaweit jährlich 500 Milliarden Euro in ökologische Projekte und Infrastruktur. Innerhalb von 12 Monaten will die Bewegung detaillierte politische Vorschläge als Antworten auf die genannten Krisen vorlegen und diese Bereiche "europäisieren". Weitere 12 Monate später soll es in der EU eine "verfassungsgebende Versammlung" geben.

Dazu heißt es: "Wenn heute Universitäten in Brüssel Forschungsfinanzierung beantragen, müssen sie länderübergreifende Allianzen bilden. Genauso müssen auch bei den Wahlen für die verfassunggebende Versammlung Wahllisten vorliegen, auf denen Kandidaten aus vielen europäischen Ländern stehen." Diese Versammlung soll dann eine künftige demokratische Verfassung entwickeln, welche innerhalb eines Jahrzehnts die bestehenden europäischen Verträge ersetzt.

Bis 2025 sollen dann wiederum die Beschlüsse dieser verfassungsgebenden Versammlung umgesetzt werden.

"Gewagter Schritt"

Wie stehen die Chancen, dass Varoufakis einer der 96 Abgeordneten sein wird, die Deutschland im Europäischen Parlament vertreten? Es dürfte schwer werden für den Professor, der sein Image als Deutschland-Gegner nicht verloren hat.

Seine Hoffnung kann er allenfalls darauf gründen, dass es für die EU-Wahl 2019 in Deutschland - anders als in anderen Ländern - keine Sperrklausel gibt. Bei der letzten EU-Wahl im Jahr 2014 ermöglichte dieser Umstand dem Satiriker Martin Sonneborn den Einzug ins EU-Parlament - für "Die Partei", mit gerade einmal 0,6 Prozent der Stimmen.


Verwendete Quellen:

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