2020 war er der Brexit-Clown und Corona-Versager. Doch 2021 erlebt Boris Johnson ein verblüffendes Comeback. Als Impf-Europameister zeigt er Brüssel plötzlich, wie es geht. Das Impfchaos der EU lässt den Brexit nun als Vorteil für die Briten erscheinen. Obendrein macht Brüssel schwere diplomatische Fehler. In London wähnt man schon den "Falkland-Moment" für Johnson. Und der nächste Coup ist angekündigt.
Die britische Boulevardzeitung "Daily Mail" ruft den "Vaccine Victory" (Impfstoff-Sieg) aus.
Tatsächlich war Johnson noch vor wenigen Wochen politisch schwer angeschlagen. Das endlose Brexit-Gerangel, seine wankelmütige Corona-Politik mit mehr als 100.000 Todesopfern, das Abrutschen des Landes in die Wirtschaftskrise, dazu Clownerien, die nicht zum Ernst der Lage passten - Johnson schien schon im Herbst politisch erledigt. Umfragen zeigten Ende Oktober, dass 59 Prozent der Briten seine Politik mit "badly" beurteilten, nur noch 34 Prozent urteilten "well". Doch seitdem wendet sich das Blatt.
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Drei Dinge bescheren Boris Johnson das politische Comeback
Erstens: Großbritannien gelingt eine ungewöhnlich erfolgreiche Impfkampagne.
Neben Israel ist Großbritannien das erfolgreichste Land bei Corona-Impfungen überhaupt. Johnsons Regierung hat frühzeitig, systematisch, großzügig bestellt und organisiert die Massenimpfungen zügig.
Bereits mehr als 10 Millionen Impfdosen sind gespritzt worden, während das größere Deutschland nur 2,5 Millionen meldet. Johnson hat sein Land zum unumstrittenen "Impf-Europameister" werden lassen, alleine am vergangenen Samstag wurden 600.000 Briten geimpft. Schon bis Mitte Februar will die Regierung 15 Millionen Menschen, alle Älteren und alle aus Risikogruppen, eine Impfung ermöglicht haben.
Zweitens: Der große britische Impferfolg steht in scharfem Kontrast zum schleppenden Impfen in der EU.
Johnson hat den nationalen Alleingang von Anfang an dazu genutzt, für seine Landsleute bessere Lieferzusagen herauszuhandeln. Seine Zulassungsbehörde war obendrein schneller als die der EU. Der ehemalige Europa-Abgeordnete und Brexiteer Michael Heaver erklärt süffisant: "Die Deutschen warten auf einen Impfstoff, der von zwei deutschen Wissenschaftlern entwickelt wurde, weil er noch keine EU-Zulassung hat. Verrückt."
Britische Medien rechnen vor, dass die EU durch ihre bürokratische Politik Zehntausende von Menschenleben riskiere. Für Johnson wird sein Lebenswerk - der umstrittene Brexit - damit im Nachhinein in den Augen vieler Briten als "eine gute Sache" legitimiert.
Drittens: Die ungeschickte Diplomatie Ursula von der Leyens im Impfstreit mit London hat Johnson einen staatsmännischen Machtmoment mitsamt moralischem Bonus beschert.
Die EU-Kommission hatte sich am Freitag beim Gerangel mit dem Pharmaunternehmen AstraZeneca dazu hinreißen lassen, im Eiltempo humanitär fragwürdige Exportbeschränkungen für Impflieferungen nach Großbritannien zu erlassen und dabei sogar die Grenze zwischen Irland und Nordirland praktisch zu blockieren.
Der Plan sorgte in London, Dublin und Belfast binnen Stunden für derart heftige Reaktionen, dass von der Leyen ihren Entscheid nach hektischen diplomatischen Interventionen noch vor Mitternacht rückgängig machte. In zwei Telefongesprächen, die die britische Sonntagspresse genüsslich als "scharf" beschrieb, brachte ausgerechnet der Sponti Johnson die ansonsten so überlegte von der Leyen zur Räson.
Weder der irische Premierminister Martin noch die irische EU-Kommissarin McGuinness waren informiert. Doch alle, selbst der EU-Brexit-Unterhändler Michel Barnier, wechselten binnen Stunden auf Johnsons Seite. Der diplomatische Triumph könnte für den britischen Premier kaum größer sein.
Narrativ-Wechsel für Boris Johnson
In England steht er nun als Bezwinger der Brüssel-Arroganz da. Denn zusätzlich zum machtpolitischen Sieg geht er nun auch als moralischer Gewinner aus dem Impfstoffstreit. Downing Street verbreitet erfolgreich folgende Version: Brüssel habe herzlos britischen Rentnern den Zugang zur zweiten Impfung blockieren wollen. Brüssel habe - weil es selber zu spät und zu geizig war und aus industriepolitischen Gründen auch noch auf die falschen Pferde gesetzt habe - bestehende Verträge der Briten torpedieren und seine Macht ausspielen wollen.
Zudem - ein besonderes Geschenk für Johnson - habe ausgerechnet Brüssel auch noch das Nordirland-Protokoll verraten, das die EU monatelang im Brexit-Poker als unantastbares Gut stilisiert hatte. Ausgerechnet der Neo-Nationalist Johnson hat nun die EU und ihre eigene nationalistische Impfstoffpolitik entlarvt.
Damit ist es Johnson - ohnehin ein Meister, sich aus delikaten Situationen zu retten - gelungen, sein Image als schlechter Corona-Manager und Brexit-Nationalist erheblich zu korrigieren. Selbst die Johnson-kritische "Irish Times" urteilt: "Dies ist der Moment eines Narrativ-Wechsels für Johnson - sowohl sein Ansehen als Corona-Krisenmanager als auch die Meinung zum Brexit bessern sich."
Und auch in den Umfragen zeigt sich das neue Meinungsklima bereits. Johnson und seine Tories haben sich jetzt wieder vor die Labour Party geschoben. Nach desaströsen Monaten streiche Boris mit unfreiwilliger Hilfe der EU die politische "Impfdividende" ein.
Handelsabkommen soll Großbritannien unabhängiger von der EU machen
Doch Boris Johnson wäre nicht Boris Johnson, wenn er nach dem ersten Triumph über die EU nun nicht einen zweiten ankündigen würde. Am Montag ließ er verlauten, Großbritannien habe den Beitritt zur transpazifischen Freihandelszone CPTPP beantragt.
Die britische Regierung habe ein entsprechendes Gesuch bei den beteiligten Staaten eingereicht. In dem Handelsabkommen seien einige der "weltweit am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften" zusammengeschlossen. Durch einen Beitritt würden in Großbritannien "hochqualifizierte Arbeitsplätze" geschaffen. Es kämen auf die Briten bald "enorme wirtschaftliche Vorteile" durch das Abkommen zu.
Dem CPTPP gehören bislang elf Staaten an, die zusammen für 13,5 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung stehen. Die 2019 geschaffene Freihandelszone umfasst unter anderem die Märkte Australiens, Kanadas, Chiles, Mexikos und Japans.
Großbritannien hatte im Oktober bereits mit Japan das erste größere Freihandelsabkommen nach dem Brexit besiegelt. Im Dezember folgten Abkommen mit Singapur und Vietnam.
Die Botschaft an Brüssel ist deutlich: Wir brauchen euch weder für Impfstoffe noch für den Handel.
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