Grünen-Chef Robert Habeck ist der prominenteste Befürworter von Enteignungen. Für eine Partei, die möglicherweise mit CDU und FDP koalieren will, ist das ein ungewöhnlicher Vorstoß. Doch der Plan folgt einem Kalkül, das die SPD in Bedrängnis bringt.

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Für ihr Zuhause gehen die Deutschen auf die Straße. Kaum ein Thema wird gegenwärtig heißer diskutiert als die Forderung nach bezahlbarem Wohnraum in Großstädten.

Anfang April demonstrierten knapp 40.000 Menschen unweit des Kanzleramts in Berlin gegen steigende Mieten, Spekulanten und brache Flächen. Etwas weniger waren es in Frankfurt und Köln und selbst in kleineren Städten wie Bremen und Leipzig machten Tausende ihrem Ärger Luft.

In Berlin entlädt sich der Frust in der Initiative "Deutsche Wohnen & Co. Enteignen". Sie will den Senat per Volksbefragung dazu bewegen, die Objekte von Immobilienkonzernen mit mehr als 3.000 Wohnungen zu vergesellschaften.

Während die SPD das Anliegen zaghaft zurückweist, zog ausgerechnet Grünen-Chef Robert Habeck das Thema auf Bundesebene und setzte sich selbst an die Spitze der Enteigner. Zwar solle die Regierung zunächst die Praxis der Bundesimmobiliengesellschaft beenden, Grundstücke an den Meistbietenden zu verkaufen und diese lieber an die Kommunen abgeben, wenn sie darauf Sozialwohnungen bauen.

Sollten diese Maßnahmen aber keinen Erfolg zeigen, um für ausreichend günstigen Wohnraum zu sorgen, "muss notfalls die Enteignung folgen", sagte Habeck der "Welt am Sonntag".

Auch beim Diesel fischen die Grünen im linken Lager

Der Vorstoß katapultiert die Grünen, die in den letzten Monaten unter ihrem charismatischen Chef wie beflügelt wirken, auf vermintes Terrain. Schließlich macht die Partei seit der Bundestagswahl kein Geheimnis daraus, spätestens nach der nächsten Wahl als Teil einer bürgerlichen Koalition in die Regierung zu streben.

Bei CDU, CSU und FDP führte Habecks Vorschlag jedoch eher zu Befremden - man argumentierte, dass Enteignungen keine neuen Wohnungen schaffen. Wenige Tage später legte Fraktionschef Anton Hofreiter mit einer weiteren Forderung, die im bürgerlichen Lager wie eine Provokation klingen dürfte, nach. In einem Papier forderte er ein Totalverbot für Diesel- und Benzinfahrzeuge von 2030 an.

Für den Juristen und Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke von den "Blättern für Deutsche und Internationale Politik" offenbaren die Vorstöße ein dreifaches Dilemma, in dem die Partei steckt. "Auf der einen Seite erwarten diejenigen, die beispielsweise an den "Fridays for Future"-Demonstrationen teilnehmen, gerade von den Grünen grundsätzliche Entscheidungen", so von Lucke.

Auf der anderen Seite müsse die Partei aufpassen, nicht das Vorurteil zu nähren, eine Verbotspartei zu sein. "Dazu kommt, dass die Grünen aktuell im Blick haben müssen, in absehbarer Zeit Teil einer bürgerlichen Koalition zu werden. Das bedeutet, die Partei muss das Spiel von Erwartung und Enttäuschung sehr vorsichtig austarieren", sagt der Experte.

Bislang schaffe es Habeck, den Riss in der Partei zu überdecken, die Positionen miteinander zu vereinen und so alle Erwartungen zu befriedigen.

Veggie-Day? Diesmal machen es die Grünen besser

Doch scheint das Pendel derzeit gefährlich weit in eine Richtung auszuschlagen, die an frühere Tage der Grünen erinnert. Vor der Bundestagswahl 2013 wollte die Partei für deutsche Kantinen einen fleischfreien Tag einführen - und schuf mit ihrem "Veggie Day" ihr eigenes Gütesiegel für Wählerbevormundung und ihr Fanal. Viele empfinden die Grünen seitdem als Verbotspartei. Haben die Grünen daraus nichts gelernt?

Doch, meint Experte von Lucke - zumindest bei der Frage von Enteignungen. "Der Veggie-Day war ein Problem, weil er mit einem klaren Verbot einherging und den Menschen etwas ganz Spezifisches vorschreiben wollte", sagt Albrecht von Lucke. "Solange aber ausdrücklich nur große Wohnungskonsortien gemeint sind, ist die Diskussion weit davon entfernt, eine Mehrheit in Deutschland zu tangieren."

Überhaupt scheint sich die gesellschaftliche Stimmung und die Antwort der Wähler auf radikalere Vorschläge der Grünen gedreht zu haben. Meinungsforscher sehen die Partei sogar mit leichten Zugewinnen, seitdem Habeck für Enteignungen trommelt.

Politikwissenschaftler von Lucke erklärt das mit neuen Zielgruppen, die die Partei mit diesen Vorschlägen erreicht. "Robert Habeck hat den Anspruch, das Wählerklientel der SPD zu übernehmen, gegebenenfalls sogar einen Teil der Wählerschaft der Linkspartei. Damit reaktivieren die Grünen auch eine zentrale Frage ihrer Gründerzeit - die soziale Frage."

Habeck wolle vor allem ein links-liberales Publikum ansprechen und die "sozialliberale Großstadtpartei der Gegenwart werden".

Habeck führt seine Partei zusammen

Dem Grünen-Chef gelingt es zudem, das Realo-Lager seiner Partei einzubinden. Boris Palmer, Tübinger Oberbürgermeister und dem linken Radikalismus eigentlich unverdächtig, war 2013 einer der größten Kritiker des Veggie-Days. Heute droht er den Grundstücksbesitzern mit ihrer Enteignung, falls sie nicht bauen - und zeigt so, wie die theoretischen Planspielchen der Parteiführung in der Realität aussehen könnten.

In mehreren Stufen will er unwillige Eigentümer per Bußgeld zum Bebauen ihrer Grundstücke zwingen - zunächst per Informationsschreiben. "Wenn das immer noch nicht zum Ziel führt, dann steht im Gesetz ganz am Ende eine Enteignung. Das heißt: Zwangsverkauf an die Stadt zum Verkehrswert", so Palmer.

In den kommenden Monaten werden die Grünen sehen, ob sich ihre scharfe Rhetorik auszahlt, denn in Brandenburg, Sachsen und Thüringen wird gewählt. Zwar muss sich die Partei im Osten, den sie lange vernachlässigt hat, erst etablieren. Doch reüssieren die Grünen dort möglicherweise bei einem linken Publikum, das staatlichen Eingriffen aufgeschlossen gegenübersteht.

"Auf dem Boden der ehemaligen DDR könnten die Grünen bei dieser Klientel punkten, weil dort das Thema der Vergesellschaftung auch eine historische Dimension hat", so von Lucke. Doch das sei ein schmaler Grat: "Was sie auf der einen Seite gewinnen könnte, droht sie auf der anderen wieder zu verlieren."

Verwendete Quellen:

  • Rhein-Neckar-Zeitung: "Eigentum verpflichtet" - Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer im Interview
  • WELT AM SONNTAG: Notfalls muss die Enteignung folgen
  • Deutsche Wohnen & Co enteignen - Beschlüsse
  • Bündnis90/Die Grünen-Bundestagsfraktion: Parteitagesbeschluss "Veggie-Day umsetzen" - für mehr Klimaschutz und Ernährungssicherheit
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