• Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD) hat eine "deutliche Erhöhung der Regelsätze" bei Hartz IV durch eine Änderung der Berechnungsmethode angekündigt.
  • Sozialverbänden geht das nicht weit genug. Deshalb wollen zwei von ihnen vor Gericht klagen und bis zum Bundesverfassungsgericht gehen.
  • Verbände und Initiativen kritisieren schon lange, Hartz IV sei "Armut per Gesetz" und der Regelsatz künstlich kleingerechnet.
Eine Analyse

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"Armut per Gesetz": Was Sozialverbände schon lange über Hartz IV sagen, sagte in der vergangenen Woche auch der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Andreas Audretsch. Er traf die Aussage im Zusammenhang mit der aktuellen Debatte über die Höhe der Regelsätze, die ihm zufolge weit unter dem Existenzminimum liegen.

Deshalb sei eine neue Berechnung nötig, zumal sich die aktuelle auf den Zeitraum Juli 2020 bis Juni 2021 beziehe – als es "im Vergleich zu heute kaum Inflation" gab, so Audretsch. Auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) gab zuletzt an, er wolle eine "deutliche Erhöhung" der Regelsätze für das Arbeitslosengeld II (ALG II) erreichen, indem die statistische Grundlage dafür verändert wird. Aber was hat es damit genau auf sich und warum steht diese ohnehin schon seit langer Zeit in der Kritik?

Heil: Mehr Hartz IV durch andere Berechnungsmethode

Bei den Regelsätzen gibt es nach bisheriger Regelung zum Beginn eines jeden Jahres eine Anpassung an die allgemeine Lohn- und Inflationsentwicklung, die sogenannte Fortschreibung. Die Entwicklung bei den Preisen bestimmter Güter und Dienstleistungen geht zu 70 Prozent und die der durchschnittlichen Nettolöhne und -gehälter mit 30 Prozent in diesen sogenannten Mischindex ein. Maßgeblich ist dabei, wie von Audretsch erwähnt, der Zeitraum zwischen Juli des Vorvorjahres und Juni des Vorjahres. Seit dem 1. Januar 2022 erhalten Alleinstehende und -erziehende 449 Euro, volljährige Partnerinnen und Partner je 404 Euro, je nach Alter darunter gelten noch mal andere Sätze.

Alle fünf Jahre – das nächste Mal 2023 – werden die Regelsätze auf Grundlage der sogenannten Einkommens- und Verbraucherstichprobe (EVS) neu berechnet. Diese zeichnet laut dem dafür zuständigen Statistischen Bundesamt "ein repräsentatives Bild der Lebens­situation nahezu der Gesamt­bevölkerung in Deutschland" und sammelt Informationen über "die Ausstattung mit Gebrauchsgütern, die Einkommens-, Vermögens- und Schuldensituation sowie die Konsumausgaben privater Haushalte."

Rund 60.000 von ihnen werden dafür als sogenannte Referenzhaushalte über einen Dreimonatszeitraum befragt. Jeder fünfte davon listet zusätzlich "einen Monat lang detailliert alle Ausgaben für Speisen und Getränke nach Mengen und Preisen auf". Im Sozialgesetzbuch heißt es, Ausgaben der Referenzhaushalte seien "als regelbedarfsrelevant zu berücksichtigen, soweit sie zur Sicherung des Existenzminimums notwendig sind und eine einfache Lebensweise ermöglichen", wie sie "einkommensschwache Haushalte" aufweisen würden, die ihren Lebensunterhalt nicht ausschließlich aus bestimmten Sozialleistungen bestreiten.

Regelsatz-Grundlage schon lange in der Kritik

Sozialverbände und Initiativen bemängeln schon sehr lange, die Berechnung verzerre durch statistische Tricks die Realität und ermögliche anders als vom Bundesverfassungsgericht zur Wahrung der Menschenwürde vorgeschrieben keine gesellschaftliche Teilhabe. Das mache sie verfassungswidrig. Ein wesentlicher Kritikpunkt ist hierbei die Vorgehensweise bei der EVS, die bei Alleinstehenden und bei Familien mit Kindern jeweils die 15 beziehungsweise 20 Prozent der Haushalte mit dem niedrigsten Einkommen als Vergleich heranzieht.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) erklärte in seiner Stellungnahme zum Entwurf für das Regelbedarfsermittlungsgesetz 2021, es würden "die statistisch gemessenen Konsumausgaben (…) der 'Ärmsten der Armen' unreflektiert mit dem soziokulturellen Existenzminimum gleichgesetzt". Arbeitsminister Heil schlägt deshalb jetzt vor, bei Familienhaushalten die unteren 30 statt 20 Prozent der Einkommen als Grundlage zu nehmen, was den am Ende herauskommenden Bedarf und damit die Regelsätze erhöhen würde.

Sozialverband: 678 Euro statt 449 Euro nötig

Der SPD-Politiker sagte, der bisherige Mechanismus zur Berechnung hinke der Preisentwicklung zu sehr hinterher. Daher solle er verändert werden. Während Heil 40 bis 50 Euro mehr – also knapp 500 Euro – anvisiert, geht beispielsweise der Paritätische Wohlfahrtsverband auf Grundlage wissenschaftlicher Berechnungen davon aus, dass erst 678 Euro im Monat als "armutsfest" gelten könnten. Ein weiterer Punkt, der an der Einkommens- und Verbraucherstichprobe bemängelt wird, ist die Einbeziehung von Haushalten, die "aufstocken" – wegen niedrigem Arbeitseinkommen also zusätzlich Hartz IV beziehen – oder "verdeckt arm" sind.

Darunter versteht man Menschen, die Anspruch auf Sozialleistungen hätten, sie aber nicht beziehen – etwa, weil sie sich schämen, gar nicht davon wissen oder entsprechende Formulare nicht verstehen. Besonders umstritten ist auch die Frage, was als "regelbedarfsrelevant" erachtet wird und was nicht. Denn nicht alle Güter und Dienstleistungen, die in der EVS erfasste Haushalte kaufen oder in Anspruch nehmen, werden auch Empfängerinnen und Empfängern von Hartz IV in voller Höhe oder überhaupt zugestanden.

Bestimmte Ausgaben werden heraus- oder heruntergerechnet

Das betrifft etwa Kosten für Flug- und Pauschalreisen, auswärts essen, Haustiere, Tabak und Alkohol, Blumen sowie Versicherungen (Haftpflicht, Hausrat, Kfz). Von Fachleuten teilweise als willkürlich bezeichnete Vorschläge gibt es wiederum auch in den Bereichen Verkehr, "Freizeit, Unterhaltung, Kultur", "Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen" da etwa ein Eisdielenbesuch nicht für das Existenzminimum erforderlich sei sowie Bildung.

Kinder und Jugendliche, deren Eltern Sozialleistungen beziehen, können aber zum Beispiel Leistungen "zur Bildung und Teilhabe" in Anspruch nehmen, etwa für Schulbedarf und -essen, Klassenfahrten, Nachhilfe sowie kulturelle oder sportliche Freizeitangebote. Bei den Regelbedarfen wird mit Blick auf Kinder und Jugendliche von fachlicher Seite beanstandet, dass die entsprechenden Referenzgruppen in der Einkommens- und Verbraucherstichprobe zu klein seien, um eine verlässliche statistische Grundlage zu erhalten.

Kosten für Unterkunft werden separat berechnet

Die EVS ist laut DGB des Weiteren nicht für die Erfassung langlebiger Gebrauchsgüter wie Waschmaschinen oder "aufwändige[r] Leistungen der Gesundheitspflege" wie Brillen geeignet, da sie nur selten und in großen zeitlichen Abständen angeschafft würden. Generell fordern verschiedene Verbände, die sogenannte "Weiße Ware", also so etwas wie Waschmaschinen oder Kühlschränke, sowie die Ausgaben für Strom aus den Regelsätzen herauszulösen und als zusätzlichen Posten gesondert zu übernehmen.

Die Kosten für eine Wohnung sind aufgrund der großen regionalen Unterschiede nicht Teil des Regelsatzes. Es gibt aber Rahmenbedingungen dafür, in welcher Höhe Miete und Heizung bei der Berechnung der insgesamt erhaltenen Leistungen einzubeziehen sind. Initiativen wie "Sanktionsfrei" berichten immer wieder von Fällen, in denen der reale Bedarf – nicht nur bei Fragen der Unterkunft – nicht angemessen berücksichtigt werde oder Jobcenter Menschen sogar schikanieren würden.

Bundesregierung plant Verbesserungen

Dass das ALG II außerdem beispielsweise nicht für eine gesunde Ernährung reicht, sagen Fachleute der Bundesregierung selbst. Die steigenden Preise der vergangenen Monate sowie regional unterschiedliche Lebenshaltungskosten erschweren die Lage für viele Menschen zusätzlich.

Verschiedene Maßnahmen hat die Bundesregierung bereits getroffen: Ab diesem Monat erhalten die nach offiziellen Zahlen rund 2,9 Millionen von Armut betroffenen Kinder im Land monatlich 20 Euro zusätzlich. Für jedes Kind mit Anspruch auf Kindergeld erhalten die Eltern zudem einmalig zusätzliche 100 Euro. Erwachsene, die ALG II, Sozialhilfe oder Grundsicherung beziehen, erhalten einmal 200 Euro. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) sagte in einem am Dienstag bei "t-online" veröffentlichten Interview, kurzfristig laufe es wegen der Inflation wohl darauf hinaus, dass das Kindergeld steigt. Ab 2025 soll es zudem die sogenannte Kindergrundsicherung geben, die verschiedene Leistungen bündelt.

In einem Interview mit dem "Handelsblatt" sagte Paus bereits im Juni, sie gehe davon aus, dass die Bundesregierung im Herbst "zwangsläufig über Steuerfreibeträge, eine Erhöhung des Kindergeldes und höhere Regelsätze" diskutieren werde. Sie bezog sich auf den dann erscheinenden und als Prognose angelegten Existenzminimumbericht. Darin wird alle zwei Jahre die Höhe eines Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern festgelegt, das steuerfrei bleiben soll. 2022 sind das laut des letzten Berichts von 2020 9.888 Euro für Alleinstehende und 16.320 Euro für Ehepaare.

Sozialverbände wollen klagen

Sozialverbänden reichen die bisherigen Maßnahmen jedenfalls nicht. Zwei von ihnen – Sozialverband VdK und der Sozialverband Deutschland (SoVD) – wollen außerdem klagen und notfalls bis vor das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ziehen. Hintergrund ist die eingangs erwähnte jährliche "Regelsatzfortschreibung", die nicht dafür geeignet sei, ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern. Sie beziehen sich dabei auch auf ein BVerfG-Urteil von 2014, in dem es hieß: "Ist eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen, darf der Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten."

In einem Urteil von 2010 wiederum hieß es: "Der Gesetzgeber hat (...) Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen (...)." Das sei in Deutschland derzeit nicht der Fall, so der Vorwurf. Der SoVD wirbt deshalb für ein "Inflationsgeld", das Menschen je nach Bedarf gezielt zugutekommen solle.

Wie sich der aktuelle Regelbedarf für Alleinstehende und Alleinerziehende (gerundet 449 Euro) zusammensetzt:
  • Nahrungsmittel, alkoholfreie Getränke: 155,93 Euro
  • Bekleidung, Schuhe: 37,29 Euro
  • Wohnen, Energie, Instandhaltung: 38,09 Euro
  • Innenausstattung, Haushaltgeräte und -gegenstände: 27,37 Euro
  • Gesundheitspflege: 17,15 Euro
  • Verkehr: 40,30 Euro
  • Nachrichtenübermittlung (Internet, Telefon): 40,18 Euro
  • Freizeit, Unterhaltung, Kultur: 43,85 Euro
  • Bildungswesen: 1,62 Euro
  • Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen: 11,74 Euro
  • Andere Waren und Dienste (z.B. Mitgliedsbeiträge für Vereine): 35,80 Euro

Quellen:

  • Aktuelle-Sozialpolitik.de (Prof. Dr. Stefan Sell): Zur Höhe der Hartz IV- bzw. "Bürgergeld"-Leistungen: Die einen geben Gas und gleichzeitig wird gebremst, andere machen sich auf den Weg zum Bundesverfassungsgericht
  • Bundesagentur für Arbeit: Bedarfe: So setzt sich Arbeitslosengeld II zusammen
  • Bundestag.de: Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, Öffentliche Anhörung im BT-Ausschuss für Arbeit und Soziales
    am 2. November 2020
  • Bundestag.de: Einkommens- und Ver­brauchsstich­probe zur Regelsatzberechnung
  • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS): Arbeitslosengeld II / Sozialgeld
  • Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB): Extreme Pfennigfuchserei: Wie die neuen Hartz-IV-Regelsätze kleingerechnet werden sollen
  • Paritätischer Gesamtverband: Hartz-IV-Regelsatz um mehr als 50 Prozent zu niedrig: Paritätischer fordert Anhebung der Grundsicherung; Regelbedarfe 2021. Alternative Berechnungen zur Ermittlung der Regelbedarfe in der Grundsicherung
  • Sozialverband Deutschland (SoVD):Ankündigung von Hubertus Heil hat keine Auswirkungen auf die Klage von SoVD und VdK
  • Statistisches Bundesamt: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS)
  • Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) - Sozialhilfe - § 28 Ermittlung der Regelbedarfe

Arbeitsminister Heil kündigt deutliche Erhöhung der Hartz-IV-Sätze an

In der Debatte über weitere Entlastungen wegen der hohen Inflation dringt Arbeitsminister Hubertus Heil darauf, nur Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen zu unterstützen. "Weil die staatlichen Möglichkeiten nicht unendlich sind, geht es um gezielte Entlastungen", sagte der SPD-Politiker. "Ich sehe keinen Spielraum, Menschen mit hohen Einkommen zu entlasten." (Foto: IMAGO/photothek/IMAGO/Florian Gaertner/photothek.de)
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