Coronakrise und Brexit, Nahost-Konflikt und Libyen-Krieg: Die Herausforderungen für den deutschen Doppelvorsitz in EU und UN ab 1. Juli sind groß, die Erwartungen sind es auch. Außenminister Heiko Maas erklärt im Interview, wie man damit umgehen will.

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"Gemeinsam. Europa wieder stark machen." Das ist das Motto der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Im Zentrum wird ab dem kommenden Mittwoch die Bewältigung der Coronakrise stehen.

Im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur schildert Außenminister Heiko Maas (SPD), was sich die Bundesregierung sonst noch vorgenommen hat - auch für eine zweite, bisher weniger beachtete Präsidentschaft, die zeitgleich beginnt.

Die Erwartungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sind sehr hoch. Wird es eine der wichtigsten Präsidentschaften der letzten Jahrzehnte?

Heiko Maas: Es wäre auch ohne Corona eine sehr wichtigste Ratspräsidentschaft geworden. Durch die Pandemie haben sich die Erwartungen der Mitgliedsstaaten und der Problemdruck noch einmal erhöht – wir nehmen die Herausforderung jedenfalls sehr ernst. Wir müssen die Europäische Union gestärkt aus der Krise herausführen.

Welche drei Ziele muss Deutschland erreichen, damit man am Ende des Jahres sagen kann: Diese Präsidentschaft war ein Erfolg?

Wir müssen die Finanzfragen lösen, also das Corona-Wiederaufbauprogramm und den mittelfristigen Finanzrahmen bis 2027 beschließen. Zweitens müssen wir den Brexit erfolgreich abschließen. Und drittens muss es uns gelingen, Europa in der globalen Großmächtekonkurrenz zwischen den USA, China und Russland, die immer unberechenbarer wird, als Einheit zu positionieren. Wir haben nur dann eine Chance, uns in diesem Umfeld zu behaupten, wenn wir dies zusammen als Europäer tun. Sonst werden wir zum Spielball von anderen.

Die EU hat zu Beginn der Krise kein gutes Bild abgegeben. Grenzschließungen erfolgten ohne Absprachen, jedes Land hat sich zunächst einmal um sich selbst gekümmert. Kann sich so etwas wiederholen?

Europa hat in dieser Krise viel dazugelernt, über unsere Defizite aber auch über unsere Stärken. Wir haben die Koordinierung verbessert und einander solidarisch Hilfe geleistet, in einem Tempo und einer Dimension, die es so noch nie zuvor gegeben hat. Es ist nicht auszuschließen, dass man Grenzen wieder dicht machen muss, wenn das Infektionsgeschehen in einer bestimmten Region der EU deutlich höher ist als in einer anderen. Aber sie müssen dann gesamteuropäisch abgestimmt und koordiniert werden.

Ein Höhepunkt der Präsidentschaft sollte der EU-China-Gipfel werden, der wegen Corona verschoben wurde. Es gibt jetzt einige, die sagen, er sollte wegen der Hongkong-Politik Chinas ganz abgesagt werden …

Durch die Absage eines Gipfels wird sich nichts verändern, weder in Hongkong noch sonst irgendwo. China ist auf der einen Seite Systemrivale, auf der anderen Seite aber auch ein wirtschaftlicher Partner. Deshalb brauchen wir einen Dialog, der dann aber auch unbequem sein kann. Vor diesem Hintergrund halte ich es nach wie vor für richtig, diesen Gipfel stattfinden zu lassen, wenn die Rahmenbedingungen es ermöglichen.

Die Beziehungen Deutschlands zu der mit China konkurrierenden Großmacht USA werden derzeit auch auf schwere Belastungsproben gestellt. Stimmen sie denen zu, die sagen, die Beziehungen seien heute so schlecht wie noch nie?

Die transatlantischen Beziehungen sind außerordentlich wichtig, sie bleiben wichtig und wir arbeiten auch dafür, dass sie eine Zukunft haben. Aber so, wie sie jetzt sind, erfüllen sie nicht mehr die Ansprüche, die beide Seiten daran haben. Deswegen gibt es dort dringenden Handlungsbedarf.

Wird bei einer Abwahl von Präsident Donald Trump im November alles besser?

Jeder, der meint, dass mit einem Präsidenten der Demokratischen Partei wieder alles so wird in der transatlantischen Partnerschaft, wie es mal war, unterschätzt die strukturellen Veränderungen.

Deutschland übernimmt ab Juli auch den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat. Wird die Corona-Pandemie dort ebenfalls ein bestimmendes Thema sein?

Wir wollen einen weiteren Versuch starten, dort zu einer gemeinsamen Stellungnahme zur Corona-Pandemie zu kommen. Es ist ein Armutszeugnis für den Sicherheitsrat, dass das bisher nicht möglich war.

Woran liegt das bisherige Scheitern?

Das liegt vor allem an einem amerikanisch-chinesischen Konflikt. Der kann vielleicht nicht unbedingt aufgelöst werden durch eine Resolution. Aber es gibt trotzdem viele Bereiche, in denen die Staatengemeinschaft die gleichen Ziele hat. China und die USA müssen ihre Differenzen bei einem so globalen Thema zurückstellen. Es kann nicht sein, dass der Sicherheitsrat sprachlos bleibt, wenn die ganze Welt es mit einer solchen Pandemie zu tun hat.

Verdeutlicht der Fall nicht ein grundsätzliches Problem des Sicherheitsrats?

Ja. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass der Sicherheitsrat kurz vor der Handlungsunfähigkeit steht. In den großen, aktuellen Krisen wie Syrien oder Corona wird der Sicherheitsrat nicht mehr den Ansprüchen gerecht, die man an ihn haben müsste. Es gibt eine dauerhafte Selbstblockade – mal von der einen, mal von der anderen Seite.

Trotzdem sind alle Versuche einer Reform in den letzten zehn Jahren gescheitert …

Wie der Sicherheitsrat sich gerade präsentiert, zeigt, dass die Notwendigkeit einer Reform so dringend ist wie noch nie. Bei dem Thema kommt man aber nicht mehr mit Trippelschritten voran.

Strebt Deutschland im Zuge einer solchen Reform weiterhin einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat an?

Das ist für uns eines von mehreren Zielen.

Gleichzeitig mit dem Beginn des deutschen Doppelvorsitzes könnte am 1. Juli die geplante Annexion palästinensischer Gebiete durch Israel beginnen. Was kommt da auf Deutschland zu?

Mit dem Vorsitz in der EU und im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen werden wir bei dem Thema eine moderierende Rolle einnehmen. Wir müssen versuchen, sehr, sehr unterschiedliche Positionen in beiden Institutionen zusammenzuführen. Vom Vorsitz wird in solchen Situationen eine Mittlerrolle verlangt, aber eher in diesen Institutionen selbst, weniger vor Ort. Wir werden uns dennoch weiter auch um direkte Gespräche zwischen Israel und den Palästinensern bemühen. Das bleibt die einzige Möglichkeit, die Annexion noch zu verhindern. (dpa/fte)

Heiko Maas (53) ist Saarländer, leidenschaftlicher Rennradler, SPD-Politiker und seit März 2018 deutscher Außenminister. "Ich bin wegen Auschwitz in die Politik gegangen." Mit diesem Satz ist er in sein Amt gestartet, hat mit einer harten Haltung gegenüber Russland Akzente gesetzt und eine Allianz der Multilateralisten gegründet. Mit der EU-Ratspräsidentschaft und dem Vorsitz im UN-Sicherheitsrat steht ihm die wichtigste Phase seiner bisherigen Amtszeit bevor.
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