Mit gerade mal 30 Jahren erkrankte der SPD-Politiker Adis Ahmetovic an Lymphdrüsenkrebs. Jetzt ist er gesund und will sein Mandat verteidigen. Die Erfahrungen der vergangenen Monate haben seinen Blick auf den Berliner Betrieb verändert.
Die innere Stimme meldete sich das erste Mal auf einer Konferenz in Mexiko. Adis Ahmetovic hielt dort Ende Februar einen Vortrag und merkte: Etwas stimmt nicht. "Irgendwie fehlte die Leichtigkeit."
Der SPD-Außenpolitiker flog zurück nach Hause, ging von Arzttermin zu Arzttermin. Doch es gab lange keinen Befund. Als Ahmetovic im April im Plenum des Bundestags saß, meldete sich wieder die innere Stimme. Er ging daraufhin in die Berliner Charité, bekam dort später die niederschmetternde Diagnose: Hodgkin-Lymphom. Lymphdrüsenkrebs, mit gerade einmal 30 Jahren. "Ich hatte keine Vorerkrankungen, keine Vorbelastungen in der Familie. Dazu lebe ich gesund."
Ein turbulentes halbes Jahr und eine gefühlsmäßige Achterbahnfahrt später sitzt Ahmetovic zu Hause in Hannover vor dem Computerbildschirm für ein Gespräch mit unserer Redaktion. Davor hatte er einen Wahlkampftermin, danach geht er zum nächsten. Bei der Neuwahl des Bundestags am 23. Februar will er sein Direktmandat in Niedersachsens Landeshauptstadt verteidigen.
Wie es ihm geht? "Mir geht es gut", sagt er. "Körperlich wie mental. Ich kann nach meiner Zwangspause endlich wieder meiner Leidenschaft nachgehen."
Eine Schwäche oder eine Stärke?
Krebs ist immer ein Schicksalsschlag. Aber Politikerinnen und Politiker stellt die Diagnose vor besondere Herausforderungen. Autorität, Hartnäckigkeit und körperliches Durchhaltevermögen sind wichtige Währungen im unerbittlichen Berliner Betrieb mit seinen Marathon-Sitzungen, Machtkämpfen und Rededuellen. Eine schwere Erkrankung macht das alles schwieriger. Und sie macht Politiker angreifbar, zumindest befürchten das viele.
Der damalige Bundesinnenminister
Adis Ahmetovic kann diese Gedanken nachvollziehen. Er dachte zunächst ähnlich, entschied dann aber, seine Erkrankung Anfang Mai öffentlich zu machen. Erstens stand eine hochdosierte Chemotherapie an: Ihre Folgen hätte er ohnehin nicht verstecken können. "Als Politiker ist man Person des öffentlichen Lebens. Die Nachbarschaft kennt einen. Zudem wohne ich seit über 31 Jahren in Hannover. Ich wollte mich nicht nur in einem Krankenzimmer oder meiner Wohnung isolieren – sondern weiter frei leben."
Zweitens bestärkten ihn viele Freunde, Bekannte, Politik-Kollegen darin, über die Erkrankung zu sprechen. "Mir haben so viele Menschen gesagt: Auch ein Politiker muss eine Schwäche zeigen können – wenn eine Erkrankung denn als Schwäche gesehen wird. Wenn ich darüber spreche, kann das auch anderen Menschen mit einer ähnlich schweren Diagnose Mut und Orientierung geben."
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Der 11. Oktober: ein zweiter Geburtstag
Es folgten schwierige Monate, in denen Ahmetovic trotzdem nicht von der Politik lassen konnte – und das auch nicht wollte. Sogar während der Chemo-Behandlung in der Medizinischen Hochschule Hannover schaltete er sich in die Haushaltsverhandlungen ein, schlug mehr als vier Millionen Euro für ein unterirdisches Fahrrad-Parkhaus in Hannover heraus. "Ja, der Berliner Politikbetrieb ist brutal", sagt er. "Aber die Politik hat mich nicht krank gemacht – das Engagement für mich ist wie das Klavier für einen Pianisten. Die Arbeit hat mich daher vielmehr während meiner Therapie abgelenkt und mir Kraft gegeben."
Dann kam der 11. Oktober. Das Datum ist heute für Ahmetovic sein zweiter Geburtstag. Nach der Untersuchung lautete der Befund: keine bösartige Stoffwechselaktivität mehr feststellbar.
Ein neuer Blick auf die Politik
Während der Krebsbehandlung hatte Ahmetovic mit älteren wie jüngeren Krebspatienten zu tun. "Wir waren alle gleich, ob Arbeiter oder Unternehmer. Mir wurde klar: Krebs kennt keine Regeln." In dieser Zeit blickte der Abgeordnete aus einer anderen Perspektive auf die Politik. Er erkannte noch besser die Absurdität mancher Kämpfe, die sich die Ampelkoalition mitten in einer krisenhaften Zeit lieferte. Heute sagt er: "Wenn die SPD in der Ampel einen Fehler gemacht hat, dann am ehesten den, dass wir sie nicht schon früher beendet haben."
Trotzdem will Ahmetovic weitermachen. Gerade hat die Hannoveraner SPD ihn wieder als Direktkandidaten für die vorgezogene Bundestagswahl aufgestellt. Mit 99 Prozent Zustimmung. Boris Pistorius, der im zweiten Wahlkreis der Landeshauptstadt als Kandidat antritt, bekam übrigens "nur" 97 Prozent.
Manuela Schwesig gab den Tipp: Nimm dir eine Auszeit – und dann komm zurück
Viele Menschen haben ihm in diesem Jahr Mut gemacht. Besonders wichtig aber sei Manuela Schwesig gewesen, sagt Ahmetovic. Beide sind Sozialdemokraten, kannten sich aber vorher nicht. Als er seine Krebsdiagnose öffentlich machte, meldete sich Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin bei ihm – auch sie hat eine Krebserkrankung hinter sich.
"Manuel Schwesig hat mir Mut gemacht, mir eine Auszeit zu nehmen. Sie hat mir aber auch Mut gemacht, danach zurückzukommen und weiterzumachen", erzählt Ahmetovic. "Sie hat gesagt: Du musst dich nicht schämen, du kannst es, mach es." Und Schwesig wusste aus eigener Erfahrung: Sobald man sein erstes öffentliches Statement abgegeben hat, ist die Schonzeit sowieso wieder vorbei.
Ahmetovic ist jedenfalls wieder mittendrin im Geschehen. Trotzdem hat ihn die Krankheit verändert. Der 31-Jährige sagt: "Der ständige Zwang zur Erreichbarkeit, die ständige Präsenz auf Social Media macht Politiker reizbar. Und wer reizbar ist, dem passieren Fehler." Ihm selbst haben die Erfahrungen dieses Jahres aber eine neue Gelassenheit gegeben. Er weiß, worauf es wirklich ankommt im Leben, worauf er sich konzentrieren muss. Die Leichtigkeit ist zurück.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Adis Ahmetovic
- Wolfgang Schäuble: Erinnerungen. Mein Leben in der Politik
Über den Gesprächspartner
- Adis Ahmetovic wurde 1993 in Hannover geboren. Seine Eltern waren zuvor vor dem Bürgerkrieg aus Bosnien-Herzegowina geflohen. Ahmetovic hat Gymnasiallehramt (Deutsch und Politik/Wirtschaft) studiert und zog 2021 mit einem Direktmandat für die SPD in den Bundestag ein. Er ist ordentliches Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und stellvertretendes Mitglied im Verteidigungsausschuss.
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