- Die Eltern von Adis Ahmetovic flüchteten 1992 vor dem Balkankrieg nach Deutschland. Jetzt sitzt der 28-Jährige für die SPD im Bundestag.
- Muhanad Al-Halak kam als Elfjähriger aus dem Irak nach Deutschland. Er wurde für die FDP ebenfalls ins Parlament gewählt.
- Im Interview sprechen die Abgeordneten über ihre Lebenswege, politische Vorbilder und ihre Ratschläge für Menschen, die sich in Deutschland ein neues Leben aufbauen wollen.
Herr Al-Halak, Sie sind im Alter von elf Jahren mit Ihrer Familie aus dem Irak nach Deutschland gekommen. Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass Sie mal Parlamentarier werden?
Muhanad Al-Halak: Niemals. Der Weg bis hierher war sehr lang. Als elfjähriges Kind hatte ich natürlich andere Interessen. Ich habe mich zuerst ehrenamtlich engagiert. Bei der Feuerwehr und bei zwei Vereinen. Das Ganze hat sich dann mit der Zeit aufgebaut. Seit 2020 bin ich in der Kommunalpolitik aktiv. Aber wenn mir jemand noch vor einem Jahr gesagt hätte, dass ich mal Bundestagsabgeordneter werde – ich hätte ihn ausgelacht.
Was hat Sie dazu gebracht, Politiker zu werden?
Al-Halak: Ich wurde hier sehr herzlich aufgenommen. In der Schule kamen die anderen Kinder auf mich zu, sie haben mich nicht als anders angesehen. Das hat mir sehr viel bedeutet. 2006 habe ich eine Ausbildung bei der Stadt machen können. Später habe ich meinen Meister gemacht und seit 2012 bin ich Abwassermeister bei der Stadt Grafenau. Die Herzlichkeit wollte ich zurückgeben, indem ich mich vor Ort engagiere. Das bin ich der Gesellschaft einfach schuldig.
Der FDP-Vorsitzende hat auch eine Rolle gespielt.
Al-Halak: 2017 habe ich
Adis Ahmetovic: Meinen Respekt dafür. Ich finde die ganze Biografie klasse. Im Alter von elf nach Deutschland zu kommen und so ein Durchstarter zu sein – das ist nicht selbstverständlich.
Matthias Miersch verhinderte, dass Adis Ahmetovic abgeschoben wurde – jetzt sind sie Kollegen im Bundestag
Sie, Herr Ahmetovic, sind 1993 in Deutschland geboren. Kurz zuvor waren Ihre Eltern nach Deutschland geflohen.
Ahmetovic: Meine Eltern sind 1992 als Kriegsflüchtlinge vom Balkan nach Deutschland gekommen. Der Krieg dort hat zu mehr als 200.000 Toten und zwei Millionen Flüchtlingen geführt. Durch den Mut meiner Eltern, das Land zu verlassen, bin ich hier in Deutschland in Frieden zur Welt gekommen. Ich bin waschechter Hannoveraner. Meine Eltern haben hart dafür gekämpft, dass mein großer Bruder und ich hier groß werden können.
Wie schwierig war dieser Kampf?
Ahmetovic: Als die Vereinten Nationen von einem stabileren Frieden gesprochen haben, wurden die Westbalkan-Flüchtlinge ab 1996 nach und nach abgeschoben. Unsere Familie zum Beispiel musste in kurzen Abständen zum Ordnungsamt und unseren Aufenthalt verlängern. Von 1996 bis 2001 habe ich als Kind insgesamt 18 dieser Kettenduldungen erhalten. 1997 hat man meinen Eltern dann nahegelegt, das Land zu verlassen. Aber sie hatten keinen Plan B. Sie wollten nicht in ein Land zurückkehren, aus dem sie vertrieben wurden. Dann haben wir einen Rechtsanwalt gefunden, der uns juristisch begleitet hat.
Das war der heutige SPD-Bundestagsabgeordnete
Ahmetovic: Er hat damals die Stadt Hannover verklagt, der Klageprozess ging schließlich bis zur Bundesrepublik Deutschland. 1999 haben wir diesen Prozess gewonnen und ein Bleiberecht erhalten. 2001 kam der nächste Durchbruch. Da haben meine Eltern und mein großer Bruder endlich eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Das war eine sehr prägende Zeit, die ich nicht vergessen werde.
Jetzt ist Matthias Miersch Ihr Kollege im Bundestag. Wie ist das?
Ahmetovic: Ein unbeschreibliches Gefühl. Ich habe Matthias Miersch 1997 als kleiner Knirps getroffen. Er hat dafür gesorgt, dass wir nicht abgeschoben werden. 24 Jahre später sitzen er und ich zusammen auf diesen blauen Stühlen im Plenarsaal. Ich realisiere das erst Schritt für Schritt.
Al-Halak: "Wer hierherkommt, muss Regeln akzeptieren"
In den vergangenen Jahren sind viele Menschen als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Was würden Sie ihnen raten, um in diesem Land erfolgreich den eigenen Weg zu gehen?
Al-Halak: Zu einer gelungenen Integration gehört nicht nur Fördern, sondern auch Fordern. Beide Seiten müssen mitmachen. Die Gesellschaft muss offen sein und nicht alle Menschen in eine Schublade stecken. Wer hierherkommt, muss aber auch Regeln akzeptieren und sich der Gesellschaft gegenüber öffnen. Ich sehe das Problem, dass sich Parallelgesellschaften bilden, die sich gegenüber den anderen verschließen. Dem muss man entgegenwirken.
Ahmetovic: Ich glaube, dass man zunächst festhalten muss, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Diesen Satz hat zum ersten Mal 1999 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder gesagt. Es gab damals auf der einen Seite viel Zustimmung, auf der anderen Seite aber auch viel Empörung über diese Aussage. Ich habe das Gefühl, dass das gerade zurückkommt.
Wie meinen Sie das?
Ahmetovic: Auch in den vergangenen Jahren ist die Debatte, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht, wieder aufgekommen. Wenn eine Hand ausgestreckt wird, muss man sie auch ergreifen. Das sage ich jedem, der nach Deutschland kommt: Es gibt Chancen und Möglichkeiten – bitte nutze sie! Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die ausgestreckten Hände wegen der durch die AfD aufgeheizten Debatten und dem gewachsenen Nationalismus in Europa weniger geworden sind. Ich hoffe, dass wir uns in der Ampel-Koalition zur vielfältigen Gesellschaft bekennen und weiter an einer Anerkennungskultur arbeiten für die Menschen, die hier seit mehreren Generationen leben und die neu zu uns kommen.
Was müsste dafür passieren?
Ahmetovic: Ich war der erste Ahmetovic, der seine bosnische Staatsbürgerschaft abgegeben hat. Meine Verwandten leben in den USA, Schweden oder Australien, fast alle durften neben der dortigen Staatsbürgerschaft ihren bosnischen Pass behalten. Ich habe mich 2015 einbürgern lassen, weil ich bei der Kommunalwahl kandidieren wollte und die doppelte Staatsbürgerschaft nicht möglich war. Ich bin Hannoveraner, Deutscher und studierter Deutsch-Lehrer, aber ich heiße eben nicht Thomas Müller oder Bastian Schweinsteiger. Die Leute werden mich immer fragen, woher mein Name kommt. Dann erzähle ich meine Geschichte. Ich persönlich hätte es besser gefunden, und es drückt meiner Meinung nach auch eine gewisse Anerkennung aus, wenn jemand die doppelte Staatsbürgerschaft bekommen kann.
Wie sehen Sie das, Herr Al-Halak?
Al-Halak: Meine Geschichte ist ein bisschen anders. Deutschland ist meine Heimat, es gibt keine andere Heimat für mich. 2011 habe ich die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt und ich wollte auch nur die eine haben. Es muss aber immer eine persönliche Entscheidung bleiben. Es sollte auch die Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft geben.
Al-Halak: "Eine ältere Dame hat gesagt: Ich werde Sie wählen, Sie sind einer von uns. Das hat mich berührt"
Im Frühjahr ging der Fall eines gebürtigen Syrers durch die Medien. Er hat seine Bundestagskandidatur für die Grünen zurückgezogen, weil ihn Beleidigungen und Morddrohungen überwältigt haben. Was haben Sie im Wahlkampf erlebt?
Ahmetovic: Ich habe aufgrund meiner Herkunft keine Diskriminierung erfahren. Die Menschen haben im Wahlkampf schon gelegentlich gefragt, woher mein Nachname kommt. Ich habe das aber nie als negativ oder als Nachteil empfunden. Die Hannoveraner haben das immer eher als Gewinn betrachtet. Ich habe allerdings Briefe von Menschen von außerhalb der Stadt erhalten, die mich wegen meiner Herkunft angegriffen haben, oft wurde ich zum Beispiel als Cevapcici bezeichnet.
Was macht das mit einem?
Ahmetovic: Ich habe gelernt, damit umzugehen. Meiner Familie ging es näher, weil diese Briefe an meine private Anschrift gingen, die sich nicht so leicht finden lässt. Auf Facebook habe ich immer wieder rechte Parolen gelesen. Aber 44.538 Menschen haben mich mit ihrer Erststimme gewählt. Das war die beste Antwort darauf.
Al-Halak: Ich habe bis heute keine Anfeindungen bekommen. Es hat vielleicht auch was mit meiner Persönlichkeit zu tun. Ich bin in meinem Wahlkreis aufgewachsen, hier kennt mich fast jeder. Es ging im Wahlkampf nicht um meinen Namen oder mein Aussehen. Ein paar Wochen vor der Wahl hat mich eine ältere Dame beim Tanken angesprochen und gesagt: Ich werde Sie wählen, Sie sind einer von uns. Das hat mich berührt.
Jetzt liegen vier Jahre als Bundestagsabgeordnete vor Ihnen. Was haben Sie sich vorgenommen?
Ahmetovic: Ein Schwerpunkt für mich ist bezahlbarer Wohnraum. Auch in einer Stadt wie Hannover haben Menschen aller Generationen Probleme mit den steigenden Kosten. Außerdem will ich mich für die Mobilitätswende einsetzen. Ich hätte gerne das 365-Euro-Jahresticket: Ein Euro pro Tag für Bus und S-Bahn ähnlich wie in Wien. Großstädte, die die Mittel dazu haben, sollten vom Bundesverkehrsministerium die Möglichkeit erhalten, so ein Ticket anzubieten. Drittens liegt mir ein außenpolitisches Thema am Herzen, das mit meiner Biografie zusammenhängt.
Welches?
Ahmetovic: Ich warne davor, dass der derzeit wieder aufkeimende Konflikt im Westbalkan erneut eskaliert und es zu einem möglichen Krieg kommt. Wir können beobachten, dass sich die Lage von vor rund 25 Jahren wiederholt. Der West-Balkan sollte unbedingt integriert werden in die Europäische Union, damit die Lage nicht erneut eskaliert.
Al-Halak: Ich habe mich für den Ausschuss für Inneres und Heimat beworben – das hängt auch mit meiner Biografie zusammen. Außerdem ist mir die berufliche Bildung sehr wichtig. Ich bin selbst Handwerker, ich habe mich sozusagen hochgearbeitet. Das Aufstiegsversprechen ist mir wichtig. Ich möchte durch meine Biografie für eine gelungene Integration werben. Ich möchte, dass junge Leute eine berufliche Ausbildung machen und dass sie damit Erfolgschancen bekommen.
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