Deutschland diskutiert über die Zukunft des Wirtschaftsstandorts – aber kaum noch über Klimaschutz. Umweltministerin Steffi Lemke ruft im Interview trotzdem dazu auf, an Energie- und Mobilitätswende festzuhalten: "Es geht darum, den Wohlstand mit zukunftsfähigen und sauberen Energien zu sichern."
Die Grünen sind für viele Menschen zum Prügelknaben oder gar zum Hassobjekt geworden. Auf ihrem Parteitag am vergangenen Wochenende haben sich Führung und Basis neuen Mut zugesprochen: mit neuen Vorsitzenden und einem Kanzlerkandidaten. Die Partei stellt klar: Sie will weiterregieren, auch wenn sie im kräftigen Gegenwind steht.
Am Rande des Parteitags nimmt sich
Frau Lemke, Deutschland steht möglicherweise vor einem Wirtschaftswahlkampf. Treten Umwelt- und Klimaschutz damit in den Hintergrund?
Steffi Lemke: Nein. Wir spüren die gravierenden Auswirkungen der Klimakrise ja auch schon bei uns. Wir hatten in diesem Jahr extremes Hochwasser in vielen Ländern Europas – wie in Deutschland, Österreich, Polen, Italien oder Frankreich, jüngst auch in Spanien. Die Schäden betreffen die Menschen ganz direkt und massiv, und sie belasten die Volkswirtschaften mit Milliarden. Darauf muss die Politik auch und gerade in Zeiten von großen geopolitischen Herausforderungen reagieren. Wenn eine politische Kraft meint, diese Themen jetzt rechts oder links liegen zu lassen, ist das unverantwortlich.
Offenbar treibt die Sicherung des Wirtschaftsstandorts aber gerade viele Menschen mehr um als Umwelt- und Klimaschutz.
Umwelttechnologien stärken unseren Wirtschaftsstandort. Wir sind in vielen Bereichen Weltmarktführer, zum Beispiel bei Klärwerken oder in der Abfallentsorgung. Die Kreislaufwirtschaft hat riesiges Potenzial und wird ein ganz entscheidender Bestandteil der Wirtschaft der Zukunft sein. Sie entwickelt sich in den nächsten Jahren zu einer Industriestrategie, die für die Volkswirtschaft Deutschlands und Europas eine Schlüsselposition einnimmt. Diese Märkte, die uns die Umwelttechnologien eröffnen, dürfen wir nicht ignorieren. Und eine intakte Natur ist doch die Basis von allem, von Wohlstand und Sicherheit, aber auch von unserer Gesundheit und Lebensqualität.
Die Rezepte von CDU und CSU zur Ankurbelung der Wirtschaft lauten unter anderem: Ausstieg aus dem Verbrenner-Verbot und Wiedereinstieg in die Atomkraft. Wenn die Union an die Macht kommt, könnte sie die Politik der Grünen der vergangenen Jahre zurückdrehen.
Friedrich Merz sagt inzwischen öffentlich, dass er große Fragezeichen beim Weiterbetrieb der Atomkraftwerke sieht. AKW-Betreiber erklären, dass sie die Kraftwerke zurückbauen und dass für sie die Debatte erledigt sei. Es ist ja so, dass die Unions-Spitze abrückt von dem völlig unrealistischen Versprechen, die Atomkraft sei die billige und sichere Energie der Zukunft. Es geht darum, den Wohlstand mit zukunftsfähigen und sauberen Energien zu sichern.
Was bedeutet das?
Die entscheidenden Jahre bei Klimaschutz und Energiewende sind jetzt. Deshalb treiben wir den Ausbau der Erneuerbaren Energien weiter voran. Sie sind sicher und stärken unsere Unabhängigkeit von Öl und Gas. Ich bin mir sicher, dass das auch die zukünftige Bundesregierung machen wird. Dieser Zickzack-Kurs von CDU und CSU in der Energieversorgung, also mal Ja, mal Nein zur Atomkraft, ist jedenfalls der schlechteste Weg. Wir brauchen eine Strategie über mehrere Legislaturperioden. Man kann nicht alle vier Jahre eine neue Energieversorgung für das Land planen.
Und der Verbrennungsmotor?
Elektromobilität ist die effizienteste Form der Mobilität im privaten Sektor – das ist wissenschaftlich unstrittig. Deshalb haben wir eine mittel- und langfristige Strategie gemeinsam mit den europäischen Partnern entwickelt. Auch hier halte ich den Zickzack-Kurs der Union schlicht für schädlich. Wir brauchen in Europa gemeinsame Rahmenbedingungen, damit die Industrie Klarheit hat und auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig ist.
Allerdings sind Elektroautos für viele Menschen weiterhin einfach zu teuer.
Das ist der Dreh- und Angelpunkt. Elektroautos müssen günstiger werden. Dafür braucht es Klarheit und Planbarkeit. Hier setzen die europäischen Ziele die richtigen Anreize. Die Automobilunternehmen sind in der Verantwortung, endlich massentaugliche, bezahlbare E-Fahrzeuge anzubieten. Dieses "Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln" der Union ist auch hier völlig kontraproduktiv.
Umwelt- und Klimaschutz werden immer noch mit Verzicht oder Verboten in Verbindung gebracht. Ist das nicht auch die Schuld der Grünen?
Welches Verbot haben wir denn zuletzt erlassen?
Selbst wenn Sie keine Verbote erlassen, haftet der Ruf an Ihrer Partei.
Das ist genau die bewusst irreführende Erzählung derer, die keinen Umwelt- und Naturschutz wollen. Die Realität ist eine andere. Ich habe immer für einen absolut pragmatischen Kurs im Interesse der Menschen geworben, weil Umweltschutz immer auch Gesundheitsschutz ist und Naturschutz die Basis unseres Lebens sichert.
Sie sind Ostdeutsche. In drei ostdeutschen Bundesländern haben die Grünen im September krachende Wahlniederlagen eingefahren. Wie erklären Sie sich das?
Das hat viele Gründe, manche liegen in der Vergangenheit. Nach der Wende fand in der DDR eine Deindustrialisierung statt, die vielen Menschen die Perspektive genommen und zu massiver Abwanderung geführt hat. Diese Erfahrung bleibt bis heute. Aber die schlechten Wahlergebnisse der Grünen im Osten haben aus meiner Sicht etwas mit der Gesamtsituation in der Politik zu tun. Auf gut Deutsch haben die Leute die Schnauze voll von Politikritualen, vom Schattenboxen der Parteien und den Ränkespielen. Viele Menschen fühlen sich von der jetzigen Situation gestresst, teilweise überfordert. Und sie haben das Gefühl, dass die Politik sich zu wenig um ihren Alltag dreht.
Und bei den Grünen soll ein Kanzlerkandidat Robert Habeck das jetzt ändern?
Es geht um die Frage, wem die Menschen zutrauen, in unsicheren Zeiten Orientierung zu geben. Robert Habeck zeigt die Richtung auf, wie wir in Deutschland und Europa unseren Wohlstand bewahren können. Die Europäische Union ist in diesen Zeiten unsere Lebensversicherung. Robert Habeck gehört zu den Politikern, die die Herausforderungen und Zumutungen unserer Zeit am besten erklären können. Das ist wichtiger als unsachliche Debatten über Wahltermine, wie sie andere Parteien in den vergangenen Wochen geführt haben.
Umfragewerte von 10 bis 12 Prozent rufen aber nicht gerade nach einem Kanzlerkandidaten.
Wir haben in den letzten zehn Tagen 11.000 neue Mitglieder gewonnen. Ich denke, das ist einmalig in der deutschen Parteiengeschichte. Das zeigt doch, dass die Menschen nach Orientierung suchen. Sie suchen auch nach einem offenen Austausch. Sie wollen weg von den Floskeln und von dem Ritualhaften, das die Ampelkoalition leider zu häufig aufgeführt hat. Und sie wollen konstruktive Debatten und echte Lösungen auf die vielen Probleme unserer Zeit.
Über die Gesprächspartnerin
- Steffi Lemke wurde 1968 in Dessau geboren. Sie studierte Agrarwissenschaften und war 1989 Mitgründerin der Grünen Partei der DDR. Als Politische Geschäftsführerin leitete sie 2005, 2009 und 2013 die Bundestagswahlkämpfe von Bündnis 90/Die Grünen. Ende 2021 übernahm sie das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz.
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