Vergangene Woche forderten in Essen zahlreiche Demonstranten die Errichtung eines Kalifats in Deutschland. Wurde der Islamismus hierzulande unterschätzt? Ja, sagt die Ethnologin und Islam-Expertin Susanne Schröter im Interview. Die Politik tue nicht genug gegen muslimisch geprägten Extremismus und Antisemitismus.

Ein Interview

In Deutschland ist die Debatte über Islamismus und muslimischen Antisemitismus neu entbrannt. Anlass sind beunruhigende Szenen von Demonstrationen, die wegen des andauernden Krieges in Gaza gerade in vielen deutschen Großstädten stattfinden. "Allahu Akbar" wird dort hundertfach gerufen. Manche Teilnehmer wünschen sich gar einen islamischen Gottesstaat.

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"Im Kalifat gibt es weder Liberalität noch Demokratie": Susanne Schröter von der Frankfurter Goethe-Universität © picture alliance/dpa/Boris Roessler

Professorin Susanne Schröter warnt schon lange vor den Gefahren des Islamismus. Für ihre Ansichten wurde die Leiterin des Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam immer wieder angefeindet. Manche Fachkollegen werfen ihr Populismus vor, linke Aktivisten stören ihre Veranstaltungen.

Wer zu Extremismus unter Muslimen forscht, stehe "permanent unter Rassismusverdacht", sagt Schröter im Interview. Das verhindere eine echte Auseinandersetzung mit dem Problem.

Am Freitag waren auf einer Kundgebung mit 3.000 Menschen in Essen auch Plakate zu sehen, auf denen die Errichtung eines Kalifats in Deutschland gefordert wird. Was ist mit dieser Forderung gemeint?

Susanne Schröter: Die Forderung ist ganz klar: Man will einen islamischen Staat errichten. Das ist dasselbe, was die Terrororganisation IS wollte. Das ist das, was in Afghanistan von den Taliban installiert wurde. Ein Kalifat ist eine islamische Diktatur, in der alle Gesetze und die gesamte Organisation des Lebens bis in den privaten Bereich hinein gemäß dem Koran und anderer religiöser Schriften geregelt wird.

Wie verhält sich dieser Gesellschaftsentwurf zu der Idee einer liberalen Demokratie?

Im Kalifat gibt es weder Liberalität noch Demokratie. Nach Meinung der Akteure, die ein solches fordern, ist die Demokratie nicht gottgewollt und hat keine Existenzberechtigung. Es gilt das Gesetz Gottes und es gibt die religiös-politische Elite, die den Willen Gottes interpretiert und exerziert. Alle anderen sind Unterworfene.

Die Versammlung soll von der "Generation Islam" organisiert worden sein. Was für eine Gruppierung ist das?

"Generation Islam" ist eine von drei Nachfolgeorganisationen der 2013 in Deutschland verbotenen islamistischen "Hizb ut-Tahrir". Die anderen heißen "Realität Islam" und "Muslim Interaktiv". Diese drei Gruppen agieren vor allem im Internet. Insbesondere über Twitter, Instagram und TikTok erreichen sie Tausende junger Muslime. Ihrem Zielpublikum reden sie ein, auserwählt zu sein, und versprechen ihnen, dass sie irgendwann mal siegreich sein werden. Das bedeutet: Die ganze Erde zum Islam zu bekehren, wie Gott ihnen das aufgetragen hat. Solange es aber noch nicht so weit ist, rufen sie die Muslime in Deutschland dazu auf, sich allem zu widersetzen, was nicht islamgemäß ist.

"Islamisten fordern für sich selbst das Recht auf Meinungsfreiheit ein."

Susanne Schröter

Wieso können diese Gruppe offenbar frei agieren?

Ihr Führungspersonal ist gut gebildet und auch juristisch versiert. Sie vermeiden alles, was eine Steilvorlage für ein neues Verbot ergeben würde. Dabei argumentieren sie durchaus geschickt. Einerseits behaupten sie, Deutschland sei eine Wertediktatur. Andererseits fordern sie für sich das Recht auf Religionsfreiheit ein. Damit rechtfertigen sie auch ihr Ziel, eine muslimische Gegengesellschaft aufzubauen. Beobachter der Demonstration in Essen berichten, dass sich die Teilnehmer sehr diszipliniert verhalten und nicht gegen polizeiliche Auflagen verstoßen haben. Das macht es schwerer, diese Organisationen zu verbieten.

Wie weit ist die Ablehnung der liberalen Gesellschaft unter Muslimen in Deutschland verbreitet?

Dazu haben wir wenig Zahlen. Das liegt daran, dass an den Universitäten zu diesem Thema kaum noch geforscht wird. Wer es doch tut, steht permanent unter Rassismusverdacht. Der Soziologe Ruud Koopmans von der Berliner Humboldt-Universität hat einige quantitative Untersuchungen zu Einstellungen unter Muslimen in Europa gemacht. Er hat fundamentalistische Einstellungen bei einem großen Teil von ihnen festgestellt. Es gibt kleinteiligere Untersuchungen von Detlef Pollack aus Münster. Er hat unter türkeistämmigen Muslimen eine deutliche Hinwendung zu fundamentalistischen Formen des Islam beobachtet. Ich selbst habe qualitativ gearbeitet und bin zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Eine lückenlose Erhebung zu diesem Thema haben wir aber leider nicht.

Die Demonstration in Essen war als Protest gegen Israels militärisches Vorgehen in Gaza angekündigt. War das nur ein Vorwand?

Ja, Gaza war hier nur der Aufhänger. Es wurden Banner gezeigt, auf denen das islamische Glaubensbekenntnis in weißer Schrift auf schwarzem Grund zu sehen ist. Das ist der Stil, den auch der IS verwendet hat. Grundsätzlich ist es nicht verboten, dieses Glaubensbekenntnis öffentlich herumzutragen. Die Symbolsprache zeigt aber deutlich, worum es eigentlich geht – und das sind nicht wirklich die Palästinenser. Der Nahostkonflikt ist aber ein gutes Thema, um junge Muslime in Deutschland zu empören, und das nutzt man gerne.

Schröter: Gruppen werden "durch das Feindbild Israel zusammengeschweißt"

Meistens werden pro-palästinensische Proteste von linken, säkularen Gruppen wie "Palästina Spricht" organisiert. Gibt es dort eine Abgrenzung zu Islamisten?

Nein, im Gegenteil. Was wir bei diesen Protesten sehen, sind Allianzen zwischen islamistischen Organisationen, säkular marxistischen Gruppierungen und jungen, akademisch gebildete Menschen ohne Migrationshintergrund, die Israel als vermeintlichen Siedlerkolonialstaat ablehnen. Das sind sehr unterschiedliche Akteure, die kaum etwas gemein haben, aber durch das Feindbild Israel zusammengeschweißt werden.

Auf diesen Demonstrationen hört man häufig den Ruf "Allahu Akbar". Hat das notwendig eine religiöse Bedeutung?

"Allahu Akbar" ist Arabisch für "Gott ist groß". Natürlich hat das etwas mit Religion zu tun. Es heißt aber nicht, dass jeder Mensch, der das ausspricht, religiös ist. Im Kontext dieser Demonstrationen geht aber mit diesem Ruf der Anspruch einher, dass sich der Islam in Deutschland durchsetzen wird. Es ist eine Machtdemonstration – und wirkt einschüchternd. Ein großer Teil der Bevölkerung reagiert sehr sensibel auf diesen Ruf, weil die meisten islamistischen Anschläge von ihm begleitet wurden.

Schröter: Politik geht nicht entschlossen gegen Islamismus vor

Geht die Politik Ihrem Eindruck nach aktuell entschlossen gegen Islamismus in Deutschland vor?

Nein, tut die Politik nicht. Politiker halten Sonntagsreden, und ich habe den Eindruck, sie warten einfach, bis sich die Empörung wieder gelegt hat. Dann geht man wieder zur Tagesordnung über. Es wird versprochen, dass man jetzt vermehrt abschieben will. Aber jeder weiß, dass Abschiebungen in Deutschland nicht funktionieren, da es dafür zahlreiche Hinderungsgründe gibt. Insgesamt tut die Politik wenig, um das Problem anzugehen – und das, während jüdisches Leben in Deutschland so unsicher ist wie lange nicht mehr. Was man jetzt tun könnte, wäre den Zuzug von Menschen, deren Gesinnung man nicht kennt, zu verhindern. Ich würde mir auch ein beherzteres Vorgehen der Polizei bei den israelfeindlichen Protesten wünschen.

In Berlin wurden einige solcher Proteste nach dem 7. Oktober verboten. Kritiker sagen, dadurch würde den Palästinensern in Deutschland der öffentliche Ausdruck ihrer Trauer und Wut verweigert.

Hier muss man unterscheiden: Ist es eine Demonstration, in der Palästinenser und Unterstützer ihre Perspektive auf die Straße bringen? Da habe ich gar nichts dagegen, auch wenn das mit einer sehr kritischen Haltung gegenüber Israel einhergeht. Das muss erlaubt sein. Antisemitismus darf aber nicht erlaubt sein.

Stehen Muslime unter Generalverdacht?

In der neu entbrannten Debatte über Islamismus und Migration besteht die Gefahr, dass Muslime schnell über einen Kamm geschoren und pauschal als Extremisten dargestellt werden. Was sagen Sie dazu?

Das ist der übliche Einwand, wenn es um Islamismus geht. Dann heißt es immer, Muslime würden unter Generalverdacht gestellt. Ich finde, das ist ein abenteuerliches Argument. Denn es geht nicht pauschal um Muslime, sondern um Islamisten. Die Differenzierung ist nicht schwer: Islamismus ist eine Form des Extremismus, genau wie der Rechts- oder Linksextremismus. Friedliebende Muslime, die die Demokratie nicht ablehnen, sind damit gar nicht gemeint. Es gibt viele religiöse Muslime, die Islamismus ablehnen. Ich würde mir aber wünschen, dass es noch mehr dieser Muslime ihre Stimme erheben würden.

Wie sollte das Islamismus-Problem langfristig angegangen werden kann?

Zuerst sollte man das Problem klar benennen und nicht sofort jede Kritik als antimuslimischen Rassismus denunzieren. Das ist in den vergangenen Jahren leider passiert. Eine echte Auseinandersetzung mit dem Islamismus und dem muslimischen Antisemitismus wurde so verhindert. Langfristig wäre es eine Aufgabe der Schulen, aber auch der politischen Bildung, für Aufklärung zu sorgen. Dort war Antisemitismus bisher etwas, was in der Vergangenheit stattfand oder nur im Bereich des Rechtsextremismus virulent ist. Wir müssen endlich anfangen, auch in der Bildung den Islamismus wie jeden anderen Extremismus zu behandeln.

Über die Gesprächspartnerin:

  • Susanne Schröter (Jahrgang 1957) hat unter anderem Anthropologie und Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz studiert und 1994 im Fach Ethnologie promoviert. Seit 2008 ist sie Professorin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie leitet das Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Schröter durch islamkritische Bücher wie "Politischer Islam: Stresstest für Deutschland" oder "Allahs Karawane: Eine Reise durch das islamische Multiversum" bekannt.
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