Vor über zwei Wochen hat die Hamas Israel in einem massiven Terrorakt angegriffen. Neben Solidaritätsbekundungen mit Israel gibt es auch in Deutschland Sympathie für die Taten der Hamas. Auf pro-palästinensischen Demos entladen sich Israel-Hass und Antisemitismus. Zwei Experten erklären, welche Menschen bei den Demonstrationen zusammenkommen, wie die Stimmung in der jüdischen Community ist und was nun gefragt ist.

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Es ist ein Video, das auf traurige Weise viral gegangen ist. Auf einem Markt spricht ein NDR-Reporter des "Hamburg Journal" eine junge Frau mit Kopftuch an. "Was halten Sie von den Anschlägen in Israel?", fragt er sie. Ihre Antwort erschreckt: "Das ist gut. Das ist sehr gut sogar", sagt sie und lacht. "Wir haben gefeiert zuhause."

Die Frau aus Hamburg ist kein Einzelfall. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vor etwa zwei Wochen sind auf pro-palästinensischen Demos immer wieder israelfeindliche Parolen zu hören, vor allem in Berlin.

Anti-israelische Parolen

Mehrfach eskalierten Demos: Steine, Feuerwerkskörper und Flaschen wurden auf Polizeibeamte geworfen, Wasserwerfer kamen zum Einsatz. Teilweise nahm die Polizei eine dreistellige Zahl an Personen fest, mancherorts wurden pro-palästinensische Demos verboten. Wer sind die Menschen, die Rufe wie "Vom Fluss bis zum Meer" skandieren und ein Palästina fordern, das vom Mittelmeer bis zum Jordan reicht und damit Israel das Existenzrecht absprechen?

"Es ist eine sehr diverse Gruppe", sagt Antisemitismus-Experte Dervis Hizarci im Gespräch mit unserer Redaktion. Unter den Demonstranten seien Menschen mit palästinensischen oder arabischen Wurzeln, aber auch viele Herkunftsdeutsche. "Es sind Menschen muslimischen Glaubens dabei und Menschen aus dem linken Spektrum", sagt er. Sie alle wollten sich nicht mit der Realität abfinden, dass Israel existiert und auch nicht wieder verschwinden wird. "Es ist eine sehr komplizierte und explosive Mischung", beobachtet der Experte. Der Hass kommt aus drei Richtungen: links, rechts, islamistisch.

Dobrindt spricht von "importiertem Antisemitismus"

In bestimmten migrantischen Kreisen ist Antisemitismus verbreitet. CSU-Politiker Alexander Dobrindt sprach in diesem Zusammenhang zuletzt von einem "importierten Antisemitismus und Hass auf Israel". Eine Studie des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) [PDF herunterladen] untersuchte 2022 antisemitische Einstellungen bei Menschen mit Migrationshintergrund aus der EU, Türkei, (Spät-)Aussiedlern aus den ehemaligen Republiken der Sowjetunion und aus der "übrigen Welt".

Ergebnis: Menschen mit türkischem Migrationshintergrund stimmten klassisch antisemitischen Aussagen von allen Gruppen am häufigsten ganz oder eher zu. Auch Menschen mit Migrationshintergrund aus der "übrigen Welt" stimmten deutlich häufiger zu als solche ohne Migrationshintergrund.

Studie liefert deutliche Ergebnisse

Einer Aussage wie "Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat" stimmten 25,3 Prozent der Menschen ohne Migrationshintergrund ganz oder eher zu. Bei den Menschen mit türkischem Migrationshintergrund waren es etwas mehr als die Hälfte.

Weiteres Ergebnis der Studie: Menschen mit Migrationshintergrund äußern sich zu antisemitischen Aussagen häufiger zustimmend, wenn sie einer Religion angehören; die höchsten Zustimmungswerte gab es unter Muslimen. Experten verweisen darauf, dass diese Menschen vor allem aus Ländern stammen, die geografisch oder politisch nah am Nahostkonflikt sind.

Israel als Projektionsfläche

Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion: "Israel ist sowohl für Islamisten als auch für deutsche Links- und Rechtsextremisten ein Feindbild. Der Staat wird als 'imperialistisch' und 'rassistisch' diffamiert, das eint Islamisten und Linksextremisten". Man könne aber sowohl bei Islamisten wie Rechtsextremisten starke antisemitische Einstellungen feststellen. "In Ansätzen gibt es die auch bei deutschen Linksextremisten, aber nicht so stark ausgeprägt wie bei Islamisten und Rechtsextremisten", sagt er.

Hizarci ergänzt: "In linken Milieus ist Israel eine Art Projektionsfläche für ein Land, welches in ihren Augen als kapitalistische Kolonialmacht auftritt. Die Kritik ist immer antikolonialistisch und antikapitalistisch. " Die Haltung sei jedoch Geschichtsverklärung. "Wenn sie behaupten, Israel sei ein Aggressor, der auch aus unserer Schuld entstanden ist, dann wird es noch verrückter", kommentiert der Experte.

Pro-palästinensisch oder anti-israelisch?

Er stellt infrage, ob man die Demonstrationen wirklich pro-palästinensisch nennen kann. "Eigentlich müsste man sie als anti-israelisch bezeichnen", sagt Hizarci. Auf den Demonstrationen würden oft aus potentiell legitimen Positionen Hasspositionen gemacht. Auf das Leid der Menschen im Gazastreifen aufmerksam zu machen, ist beispielsweise ein legitimes Anliegen. Darauf hinzuweisen, dass auch die Menschen in Gaza unter der Hamas leiden, ebenfalls. Problematisch ist es aber, wenn die Terrorangriffe der Hamas nicht verurteilt werden.

"Wenn man zu einer Demonstration geht, die vorgibt, den Opfern der vergangenen beiden Wochen zu gedenken, und dann erkennt man, dass die Treibenden Israelhasser sind, dann müssten kluge Menschen, die das vor Ort erkennen, die Demonstration wieder verlassen", sagt Hizarci daher.

Von Samidoun und PFLP bis BDS

Organisationen, die mit der Hamas sympathisieren, haben in der Vergangenheit Demonstrationen organisiert oder dazu aufgerufen. Dazu zählt zum Beispiel das Netzwerk "Samidoun", das sich für die Befreiung inhaftierter Palästinenser einsetzt und aus der marxistisch-leninistischen PFLP, der Volksfront für die Befreiung Palästinas, hervorgegangen ist. Samidoun-Anhänger feierten kurz nach dem Terrorangriff der Hamas auf den Straßen von Berlin-Neukölln. Bundeskanzler Olaf Scholz hat mittlerweile ein Verbot von Samidoun angekündigt.

Häufig anzutreffen sind auch Anhänger der internationalen Bewegung "Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen" (BDS), die es hierzulande seit 2005 gibt. Die Bewegung ruft die Wissenschaft und kulturelle Institutionen dazu auf, nicht mit israelischen Universitäten und Instituten zusammenzuarbeiten, und fordert internationale Sanktionen gegen Israel. Beim Bundesamt für Verfassungsschutz wird sie als "extremistischer Verdachtsfall" geführt.

Gefahr für jüdische Community

Die Demos bergen aus Sicht beider Experten Gefahren. "Es herrscht große Angst, was verständlich ist", sagt Pfahl-Traughber mit Blick auf die jüdische Community. So viele Juden wie nach den Massakern der Hamas seien seit der Shoah nicht ermordet worden. "In Großstädten trauen sich kaum noch männliche Juden mit Kippa auf die Straße, da sie damit ja direkt als Juden erkennbar sind", sagt der Experte. In Berlin seien Davidssterne an Häuser gemalt worden, was an die Ära des Nationalsozialismus erinnert. "Ein Trauma für viele Juden", kommentiert Pfahl-Traughber.

Auch Hizarci sagt: "Aus dem, was da hochkocht, können tätliche Angriffe auf Menschen jüdischen Glaubens und auf jüdische Einrichtungen erwachsen." Eine der großen Gefahren in Deutschland sei auch, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet ist.

Experte: Rechte reiben sich die Hände

Durch die pro-palästinensischen Demonstrationen gebe es einen pauschalisierenden Blick auf Muslime, was zu Stigmatisierung führe. "Die ganz Rechten reiben sich die Hände angesichts all der Bilder, die gerade entstehen", sagt Hizarci. Die Rechten hätten selbst ein problematisches Verhältnis zu Israel, könnten aber nun sagen, die anderen seien das Problem.

Versäumnisse in der deutschen Migrations- und Integrationspolitik, vor allem beim Umgang mit Vielfalt, würden uns nun auf die Füße fallen. "Es ist ein Versagen deutscher Bildungspolitik, wenn junge Menschen nicht kritisch und reflektiert sind, sondern auf die Straße gehen und einseitige Hassparolen skandieren", sagt er.

Bildungsoffensive nötig

Hätten es in der Vergangenheit eine inklusive Bildung und Beziehungen zu diesen Gruppen gegeben, hätte man die Zivilgesellschaft gestärkt und hätte man ein Verständnis von Gesellschaft geschaffen, welches Vielfalt berücksichtigt – "dann würden sie nicht so aggressiv in Provokation auf all das reagieren", meint Hizarci. Eine Bildungsoffensive sei jetzt vonnöten. "Wer nur klare Kante oder Repressionen fordert, glaubt nicht an Bildung", meint er.

SPD-Chef Lars Klingbeil hatte jüngst angekündigt: "Wer antisemitisch unterwegs ist, der hat hier in Deutschland keine Bleibeperspektive." Bei der Neuregelung des Staatsbürgerschaftsrechts solle Antisemitismus ein Grund sein, keinen deutschen Pass zu bekommen.

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"Einwanderungstest-Phänomen"?

Hizarci kommentiert: "Alle, die Dinge fordern wie: ‚Wer Antisemitismus zeigt, hat keine Bleibeperspektive‘, betreiben Populismus". Unter den Antisemiten seien auch deutsche Staatsbürger. "Es gibt im rechten sowie im linken Spektrum Antisemiten, bei denen man diese Frage nicht stellen kann", erinnert er.

Er hält die Forderung für Polemik, Ablenkung und einen Ausdruck von Hilfslosigkeit. "Es geht an den Realitäten im Land vorbei. So bekämpft man Antisemitismus nicht und sorgt auch nicht dafür, dass die Staatsräson "Israel" in der breiten Bevölkerung ankommt", lautet sein Urteil. Antisemitismus sei kein "Einwanderungstest-Phänomen". "Mit einer solchen Forderung verklärt man es zu einem Integrations-Verweigerungs-Momentum", so der Experte – "und das ist dem ernsten Anliegen ‚Antisemitismus‘ unwürdig."

Über die Gesprächspartner:

  • Dervis Hizarci ist Antisemitismus- und Rassismus-Experte. Er ist Vorsitzender der "Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA)", die Bildungsprogramme gegen Antisemitismus in einer von Vielfalt geprägten Gesellschaft anbietet. In der Vergangenheit war Hizarci Antidiskriminierungsbeauftragter der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie.
  • Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber lehrt an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung und an der Universität Bonn zu den Themen Antisemitismus, Extremismus, Ideengeschichte, Terrorismus und Totalitarismus. In der Vergangenheit gehörte er den "Unabhängigen Arbeitskreisen Antisemitismus" des Deutschen Bundestags an.

Verwendete Quellen:

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