Nach dem Rückzug der USA bestimmen die Türkei und Russland, wie es in Syrien weitergeht. Verlierer sind die Kurdenmiliz YPG, einmal mehr die Zivilisten - und der Westen, der kaum noch Einfluss hat.
Nach der russisch-türkischen Einigung über eine gemeinsame Kontrolle von Grenzgebieten in Nordsyrien hat Moskau die Kurdenmiliz YPG massiv unter Druck gesetzt.
Sollte die Miliz mit ihren Waffen nicht aus den Gebieten abziehen, würden "die verbleibenden kurdischen Formationen ... von der türkischen Armee in der Tat zermalmt", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Mittwoch der Agentur Tass zufolge.
Gleichzeitig sind Einheiten der russischen Militärpolizei Richtung Nordostsyrien vorgerückt. Das teilte das Verteidigungsministerium in Moskau am Mittwoch mit. Demnach habe der Konvoi um 12 Uhr Ortszeit den Fluss Euphrat überquert und sei weiter Richtung Norden unterwegs.
Syrische Militärkreise berichteten, russische Militärpolizisten seien mit vier Fahrzeugen in die Grenzstadt Kobane eingerückt und hätten in Richtung des Grenzübergangs bewegt.
Die Türkei hatte am 9. Oktober einen international massiv kritisierten Feldzug gegen die Kurdenmiliz YPG im Norden Syriens begonnen. Ankara betrachtet die Miliz, die bislang an der Grenze zur Türkei ein großes Gebiet kontrollierte, als Terrororganisation. Die bislang mit den Kurden verbündeten USA haben den Rückzug ihrer Truppen angekündigt und teilweise bereits vollzogen.
Waffenrufe: Einseitiges Dokument lässt viele Fragen offen
Am Dienstagabend hatten sich Russland und die Türkei über einen Abzug der YPG aus Grenzgebieten verständigt. In dem Abkommen wurde eine 150-Stunden-Frist gesetzt. In dieser Zeit werden demnach die russische Militärpolizei und syrische Grenzeinheiten zur Kontrolle eingesetzt. Das läuft dann auf eine Waffenruhe hinaus. Danach soll es gemeinsame Patrouillen von Russland und der Türkei geben.
Wie viele YPG-Kämpfer in den sechs für den Abzug vorgesehenen Tagen den Grenzstreifen mit der Türkei verlassen sollen - und wohin sie gehen -, blieb unklar. Auch das Ausmaß des genauen Abzugsgebiets wurde in dem Dokument, das auf ein einzelnes Blatt Papier passt, nicht eindeutig beschrieben.
Mit den beiden Abkommen kommt die Türkei ihrem Ziel einer sogenannten Sicherheitszone an der Grenze sehr viel näher und gewinnt, nach massiven internationalen Protesten gegen ihre Militäroffensive, eine Schlacht, ohne weiterkämpfen zu müssen.
Die Einigung zeige, dass Russland "die Ordnungsmacht des Nahen und Mittleren Ostens" geworden sei, sagte der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat im Radioprogramm SWR Aktuell am Mittwoch.
Der außenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Bijan Djir-Sarai, erklärte, Putin und Erdogan hätten die Nachkriegsordnung in Syrien festgelegt. Sie seien mit dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad die Gewinner, die Kurdenmiliz YPG die Verliererin des Treffens. "Europa und die USA bleiben als politische Akteure völlig irrelevant", erklärte Djir-Sarai. "Der Krieg in Syrien wird als eine historische Blamage des Westens in die Geschichte eingehen."
Kurden: "Wir sind vom IS gefährdet"
Die Kurdische Gemeinde Deutschlands hat das Verhalten der USA und Europas kritisiert. "Es kann nicht sein, dass der Westen sich aus dem Nahen Osten verabschiedet und die Region den Russen überlässt", sagte der stellvertretende Bundesvorsitzende des Verbandes, Mehmet Tanriverdi, der Deutschen Presse-Agentur (dpa).
Die Lage sei durch die Einigung zwischen Ankara und Moskau natürlich schwieriger. Es gehe jedoch nicht nur um die Sicherheit in der Region, sondern auch um westliche Sicherheitsinteressen, so Tanriverdi. "Wir sind vom IS gefährdet."
Aus diesem Grund befürwortete er auch den Vorstoß von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) für eine international kontrollierte Sicherheitszone. So könnten von den Kurden festgenommene Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die infolge der türkischen Militäroffensive nicht freikamen, weiter festgehalten werden, so Tanriverdi. Zudem könnten geflüchtete Menschen geschützt und Fluchtursachen bekämpft werden.
Syrer zündet sich vor UNHCR-Gebäude an
Indes hat ein Vorfall in Genf, der im Zusammenhang mit dem Krieg in Syrien steht, für Erschrecken gesorgt: Ein in Deutschland lebender syrischer Kurde hat sich am Morgen vor dem Gebäude des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) in Brand gesteckt.
Der 31-Jährige sei schwer verletzt worden, sagte der Polizeisprecher Silvain Guillaume-Gentil der Deutschen Presse-Agentur. Er sei mit dem Hubschrauber in eine Spezialklinik für Brandopfer nach Lausanne gebracht worden. Das UNHCR zeigte sich tief betroffen. "Unsere Gedanken sind bei ihm und seiner Familie", sagte Sprecher Andrej Mahecic der dpa.
Nach Angaben der Polizei hat der Mann sich am Mittwochmorgen vor dem Gebäude mit Benzin übergossen und angesteckt. Die Sicherheitskräfte seien ihm sofort zur Hilfe geeilt und hätten die Flammen innerhalb kürzester Zeit gelöscht, so Mahecic: "Sie haben ihm das Leben gerettet." (dpa/mcf)
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