Am Dienstag bietet sich wohl die letzte Möglichkeit, die von allen Bundestagsfraktionen als dringend angesehene Reform des Wahlrechts rechtzeitig für die Bundestagswahl 2021 einzufädeln. Doch Schwarz-Rot zeigt sich bis zuletzt zerstritten. Es droht ein Mega-Bundestag.
Deutschland braucht ein neues Wahlgesetz. In diesem Punkt sind sich alle im Bundestag vertretenen Parteien einig. Das Problem ist: Das Parlament kann sich nicht einigen, wie es reformiert werden soll – und das schon seit Monaten. Nicht einmal in der Regierungskoalition gibt es bisher eine einheitliche Linie.
Am Dienstagnachmittag gibt es wohl die letzte Möglichkeit, tatsächlich noch eine Reform des Wahlrechts auf den Weg zu bringen, sodass sie bei der Bundestagswahl im Herbst 2021 angewendet werden kann.
Aber es zeigt sich das bekannte Bild: Auch kurz vor den Beratungen des Koalitionsausschusses über die Wahlrechtsreform zeichnet sich keine Kompromisslinie ab. Denn ein neues Gutachten stützt die Zweifel der SPD an der Umsetzbarkeit des Unionsvorschlags, wie der "Tagesspiegel" am Montag berichtete. Demnach wird in dem Papier die vorgesehene Streichung von Wahlkreisen als kaum mehr realisierbar dargestellt. Opposition und Steuerzahlerbund warnten vor einer erneuten Vertagung der Reform.
Immer mehr Abgeordnete, immer höhere Kosten
Weil der Bundestag immer größer wird, wollen die Parteien seit Jahren die Zahl der Abgeordnetensitze verringern. Die Normgröße sind 598 Abgeordnete. Saßen nach der Bundestagswahl 2013 630 Abgeordnete im Parlament, müssen seit dieser Legislaturperiode bereits 709 Abgeordnete und ihre Ansprüche aus der Staatskasse finanziert werden. Schätzungen zufolge belaufen sich diese für 2020 auf erstmals über einer Milliarde Euro. Ohne eine Reform wird ein weiteres Anwachsen auf möglicherweise mehr als 800 Abgeordnete befürchtet.
Die Union geht am Dienstag mit einem ausformulierten Gesetzentwurf in die wohl entscheidenden Verhandlungen des schwarz-roten Koalitionsausschusses über eine Wahlrechtsreform. Sie will die Zahl der Wahlkreise möglichst schon für die kommende Bundestagswahl 2021 leicht reduzieren – von jetzt 299 auf dann 280. Bis zu sieben Überhangmandate sollen nicht mehr durch Ausgleichsmandate kompensiert werden.
Zudem soll es Einschnitte bei der abhängig von der Einwohnerzahl vorab festgelegten Mindestsitzzahl für die Bundesländer und die Parteien dort geben. Denn im Ergebnis führt diese Regelung zu weiteren Ausgleichsmandaten.
Diesem Vorschlag steht das Gutachten der Wahlrechtsexpertin Sophie Schönberger entgegen, über das der "Tagesspiegel" berichtete. Es wurde von der SPD-Fraktion in Auftrag gegeben. Schönberger kommt darin zu dem Schluss, dass in ganz Deutschland das Aufstellungsverfahren für Bundestagskandidaten wiederholt werden müsste, wenn sich die Union mit ihrem Vorschlag durchsetzt, 19 Wahlkreise zu streichen.
Ein Neuzuschnitt von Wahlkreisen ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl sei zwar verfassungsrechtlich nicht vollständig ausgeschlossen, schreibt die Expertin dem Bericht zufolge. Es müsse dann aber entweder ein kompletter Neuzuschnitt aller Wahlkreise erfolgen – oder in Wahlkreisen, die unverändert blieben, müsse eine Pflicht zur Neuaufstellung von Kandidaten gesetzlich festgelegt werden.
SPD will große Reform erst nach der Wahl 2021
Aus der SPD waren schon mehrmals Zweifel geäußert worden, dass sich eine Wahlrechtsreform mit Streichung von Wahlkreisen noch zur nächsten Bundestagswahl im Herbst 2021 umsetzen lässt. Die Sozialdemokraten wollen stattdessen ein Übergangsmodell durchsetzen und erst nach der Wahl eine größere Reform – auch mit einer Verringerung der Wahlkreiszahl – angehen.
Die Grünen-Vorsitzende
Baerbock rief die Koalitionsparteien auf, sich nicht länger gegen den gemeinsamen Gesetzentwurf von Grünen, FDP und Linken zu stellen, wenn eine Verständigung auf eine andere Lösung nicht zustande komme. Dafür solle die Abstimmung im Bundestag unabhängig von der Fraktionszugehörigkeit freigegeben werden. Den Vorschlag der Union, einige Überhangmandate nicht auszugleichen, lehnte sie ab.
Auch der parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion, Jan Korte, warb erneut für den gemeinsam mit FDP und Grünen erarbeiteten Gesetzentwurf. "Die Koalition kann dem zustimmen oder ihren Abgeordneten die Abstimmung wenigstens freigeben", erklärte er in Berlin. "Denn klar ist: Für ein erneutes Scheitern einer Wahlrechtsreform auch in dieser Legislaturperiode wären allein CDU/CSU und SPD verantwortlich."
Gegenseitige Vorwürfe
CSU-Chef Markus Söder wirft hingegen der SPD Verzögerung aus taktischen Gründen vor. Die Union reiche den Sozialdemokraten die Hand für eine Lösung, die schon für den nächsten Bundestag gelten solle, sagte der bayerische Ministerpräsident dem "Spiegel". "Ich habe aber das Gefühl, dass einige SPD-Strategen denken, ein größeres Parlament könnte für ein rot-rot-grünes Bündnis erfolgversprechender sein."
Zum Vorwurf, seine Partei habe die Sache selbst verschleppt und erst sehr spät einen gemeinsamen Vorschlag mit der CDU vorgelegt, sagte Söder: "Aber jetzt liegt er rechtzeitig auf dem Tisch." Ein Tor zähle beim Fußball auch dann, "wenn es in der 90. Minute fällt". Sollte keine Einigung gelingen, hält Söder dies nicht für allzu dramatisch: "100 mehr gewählte Abgeordnete sind keine Katastrophe für die Demokratie, wenn sie dabei helfen, den Bürgern die Politik näherzubringen", sagte er dem "Spiegel".
Umgekehrt beschuldigte SPD-Chef Norbert Walter-Borjans den Koalitionspartner im SWR. Die Union wolle sich mit seinem Reformvorschlag Vorteile sichern. Es dürfe nicht sein, "dass eine Partei Vorschläge macht, die so sind, dass CDU und CSU am Ende mehr Sitze im Parlament haben, als sie Stimmanteile bei der Wahl errungen haben". Im Koalitionsausschuss müsse daher eine Einigung gefunden werden, "die diesen Versuch, sich einen Vorteil zu verschaffen, vereitelt".
Angesichts der wechselseitigen fortdauernden Vorwürfe ein hehrer Wunsch. (afp/dpa/mf)
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