Bei ihrem Terrorangriff am 7. Oktober hat die Hamas über 200 Geiseln in ihre Gewalt gebracht – vier davon sind inzwischen befreit worden. Gelungen ist die Geiselbefreiung durch das Engagement des Emirats Katar, das mit der Hamas verhandelt hat. Doha pflegt seit Langem gute Beziehungen zu der Terrororganisation. Zwei Experten erklären, warum Doha dazu bereit ist und welches Kalkül dahintersteckt.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Vier der über 200 Geiseln, die die Hamas bei ihrem Terroranschlag in Gefangenschaft genommen hat, sind wieder frei. Alle Freilassungen gehen auf das Konto des Emirats Katar, das mit der Hamas verhandelt hat. Noch am Tag des Überfalls hatte US-Außenminister Antony Blinken Doha um Hilfe in der Geiselfrage gebeten.

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Das zeigt: Der Einfluss Katars ist groß – sehr groß. "Katar hat eine politisch-pragmatische Beziehung mit der Hamas", sagt Nahost-Experte Andreas Krieg. Mehrfach sei Katar in der Vergangenheit bereits als Vermittler aufgetreten, etwa im Zusammenhang mit den Taliban. "Das ist Teil der Strategie von Doha", sagt Krieg.

Das Kalkül: sich durch die guten Beziehungen zur Hamas den USA, dem wichtigsten Verbündeten, als Stellvertreter in Verhandlungen anbieten. Denn auf direktem Wege können die USA mit manchen Fraktionen nicht sprechen. So will Katar seine eigene Stellung in der Region sichern.

Katar half auch Deutschland

Politikwissenschaftler Philipp Dienstbier sagt: "Die USA haben in der Vergangenheit Doha mehrfach um Vermittlung gebeten, zuletzt etwa bei den Verhandlungen zwischen Washington und Teheran über die Freilassung von amerikanischen Gefangenen im Iran."

Katar habe in der Vergangenheit auch Deutschland geholfen, etwa bei der hastigen Evakuierungsmission aus Afghanistan im Sommer 2021. "Für Doha sind seine guten diplomatischen Beziehungen zu allen Seiten eine Strategie, um sich vis-à-vis der großen Nachbarstaaten abzusichern", analysiert der Experte.

Katar teilt sich beispielsweise mit dem Iran eins der größten Gasfelder der Welt, ist daher an guten Beziehungen mit Teheran interessiert. Die eigene Wirtschaft ist stark von Gasexporten abhängig, auch Deutschland ist Kunde. Gleichzeitig sind die USA ein wichtiger Verbündeter und Katar hat gute Beziehungen zu islamistischen Gruppen. Darunter: die Hisbollah, die Muslimbruderschaft, die Taliban.

2,1 Milliarden Dollar Unterstützung

Dienstbier sagt: "Katar unterhält ein 'politisches Büro' der Hamas in seiner Hauptstadt. Außerdem halten sich Führungsfiguren der Hamas, wie Ismael Haniyeh, immer wieder in Doha auf." Katar würde zudem finanzielle Hilfen leisten und Investitionen im Hamas-kontrollierten Gaza-Streifen tätigen.

Berichten zufolge sollen seit 2007 über 2,1 Milliarden US-Dollar aus Doha ins Palästinensergebiet geflossen sein. Teilweise wurde das Geld durch Tunnel in den Gaza-Streifen gebracht. Es ist Geld, mit dem Zivilangestellte der Hamas bezahlt, aber auch arme Familien unterstützt wurden. "Die Zahlungen werden trotz fehlender diplomatischer Beziehungen informell mit Israel koordiniert", so Dienstbier.

Exilort für die Hamas

Das politische Büro der Hamas war 2012 auf amerikanische Bitten in Doha eröffnet worden. Hamas-Führungsfiguren wie Ismael Haniyeh hatten zuvor im syrischen Damaskus gewohnt. "Haniyeh hat sich auf die Seite der Revolutionäre und gegen das Assad-Regime gestellt. Deshalb musste er das Land verlassen", erinnert Krieg.

Die einzige andere neue Heimat, die damals für die Hamas in Frage kam, sei der Iran gewesen. "Das wollten die Amerikaner aber nicht. Sie wollten, dass Katar die Hamas aufnimmt, damit sie wenigstens unter der Kontrolle eines Verbündeten und der Amerikaner sind", sagt Krieg. Außerdem sei die Hamas eine sunnitische Bewegung, während der Iran ein schiitisches Regime hat.

USA unterhalten Militärbasis

"Katar ist der wichtigste Verbündete am Golf und genießt absolutes Vertrauen der Amerikaner", betont Krieg. Die USA haben an ihrem wichtigsten Stützpunkt im Nahen Osten über 10.000 Soldaten stationiert. Gleichzeitig: "Die Hamas haben Katar wiederum als einen der wenigen Akteure akzeptiert, denen man vertrauen kann. Denn Katar hat sich immer uneingeschränkt auf die Seite Palästinas gestellt und den palästinensischen Kurs immer unterstützt", erklärt der Experte.

Die Hamas profitiert noch an anderer Stelle: Doha bietet ihr mit seinem TV-Sender Aljazeera Zugang zu einem Propagandainstrument. Kritiker sagen: Katar hofiert damit die Hamas und hat durch die finanziellen Zahlungen die Organisation überhaupt erst so gestärkt, dass sie zum Terroranschlag am 7. Oktober fähig war. Sie geben Katar daher eine Mitschuld an den brutalen Massakern.

Wird die Hamas zum Klotz am Bein?

Auch Dienstbier meint: Katar gewinne in seiner Rolle zwar international Macht und Einfluss, sie könne für das Land aber auch zur Belastung werden. In der Vergangenheit hätten beispielsweise Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und andere Nachbarstaaten wegen Katars Unterstützung der Muslimbruderschaft bereits eine Blockade verhängt.

Wird die Hamas durch den Angriff auf Israel also nun zum außenpolitischen Klotz am Bein? Experte Krieg glaubt das nicht. "Egal, mit welchen staatlichen oder nicht-staatlichen Akteuren Katar in der Vergangenheit Kontakt hatte – sie haben es immer zur Stabilität der Region genutzt."

Die amerikanischen Geiseln im Iran und die israelischen Geiseln im Gazastreifen seien nicht ohne Hilfe Katars freigekommen. "Die Bundesregierung ist im engen Kontakt mit den Kataris. Deutschland hat ein großes Interesse an der friedlichen Befreiung der doppelstaatlichen Geiseln", sagt Krieg.

Fenster der Diplomatie noch offen

Katar werde in den nächsten Jahren einer der wichtigsten Energielieferanten Deutschlands werden. "Das Land ist außerdem wichtiger Investor in mittelständische und große Unternehmen in Deutschland", erinnert er.

Die momentane Situation zeige, dass man Mediatoren braucht. "Es gibt ein Fenster der Diplomatie, welches noch nicht geschlossen ist in der derzeitigen Eskalation", ist sich Krieg sicher.

Viele der größeren Staaten in der Region und außerhalb, die die Möglichkeit hätten, diese Art von Verhandlungen zu führen, seien zu vorbelastet. "Die Kataris haben durch eine gewisse Neutralität Möglichkeiten, die andere Staaten nicht haben", so der Experte.

Neuer Umgang mit der Hamas

Dennoch müsse Katar einen neuen Weg finden, mit der Hamas umzugehen und sich öffentlich von ihr zu distanzieren. "Katar hat den Angriff nicht gefeiert, aber auch nicht klar verurteilt", erinnert Krieg. Man habe Israel verantwortlich gemacht. Hinter verschlossener Tür seien die Kataris aber extrem schockiert gewesen, berichtet er. "Man versucht auf öffentlicher Ebene klarzustellen, dass man das Hamas-Büro zwar in Katar hat, das aber nicht bedeutet, dass man das, was die Hamas tut, in irgendeiner Weise unterstützt oder gutheißt", meint er.

Vieles hängte davon ab, was nun im Gazastreifen passiere. "Ich halte es für unwahrscheinlich, dass die Hamas von Israel besiegt werden kann. Wenn sie in irgendeiner Form überlebt, braucht es weiterhin ein Büro und man sollte die Kanäle zur Hamas weiter offenhalten", so Krieg.

Über die Gesprächspartner

  • Philipp Dienstbier ist Leiter des Regionalprogramms Golf-Staaten bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.
  • Dr. Andreas Krieg lehrt an der School of Security Studies am King’s College London, am Royal College of Defense Studies und Fellow am Institute of Middle Eastern Studies.
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