- Norbert Lammert ist seit 2018 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Zuvor war er zwölf Jahre lang Präsident des Bundestags.
- Im Interview mit unserer Redaktion spricht der CDU-Politiker über die Stärke der deutschen Demokratie, die Lage Ostdeutschlands – und seine Kritik am Neun-Euro-Ticket.
Herr Lammert, Sie sind seit fünf Jahren nicht mehr Mitglied des Bundestages. Wie oft haben Sie es seitdem vermisst, Parlamentarier zu sein?
Norbert Lammert: Wenn ich jetzt schlicht "Nie" sagen würde, hörte sich das fast so an, als wäre ich erleichtert, es hinter mich gebracht zu haben. Davon kann keine Rede sein. Es war eine gute und lange überlegte Entscheidung. Und es hat keinen Zeitpunkt danach gegeben, in dem ich sie bedauert habe.
Als Sie 2017 den Bundestag verlassen haben, ist die AfD dort eingezogen. Wie hat sie nach Ihrer Beobachtung das Parlament verändert?
Man muss zwei Dinge unterscheiden: Inhaltlich vertritt die AfD lautstark eine Position, von der ich mir gewünscht hätte, dass sie in Deutschland mit seiner besonderen Geschichte nie über eine kleine versprengte Minderheit hinausreichen würde. Das andere sind die Umgangsformen. Ich gehörte zu den Abgeordneten, die schon Mitglied im Deutschen Bundestag waren, als die Grünen 1983 dort erstmals einzogen sind: mit Fauna und Flora, mit den erstaunlichsten Kostümen und einer bemerkenswert rustikalen Argumentationsweise. Der deutsche Parlamentarismus hat also schon hinreichende Erfahrungen hinter sich. Beide Parteien sind mit einer sehr unterschiedlichen, jeweils dezidiert systemkritischen Perspektive in den Bundestag eingezogen. Am Ende hat das System die Grünen domestiziert – die Grünen haben nicht das System verändert. Ob es eine ähnliche Aussicht auf dem rechten Flügel gibt, darüber will ich keine Spekulationen anstellen.
Sie haben 2017 bei der Eröffnung der Bundesversammlung eine Verkleinerung des Bundestages angemahnt. Sicher nicht zum ersten Mal.
Das war damals wahrscheinlich mein 50. Beitrag zu dem Thema.
Die Fraktionen der Ampel-Koalition haben inzwischen einen Vorschlag vorgelegt, mit dem die Zahl der Abgeordneten auf 598 begrenzt werden soll. Wie gut stehen die Chancen, dass diese Wahlrechtsreform umgesetzt wird?
Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Koalition diese Wahlrechtsreform auch ohne breiten Konsens im Parlament beschließen wird. Ich halte es aber auch für absehbar, dass die Reform dann zur Überprüfung beim Bundesverfassungsgericht landet.
Es gibt bisher jedenfalls keinen Konsens zwischen Koalition und CDU/CSU. In der Vergangenheit ist eine Wahlrechtsreform vor allem an der Union gescheitert, also an Ihrer Partei.
Nicht nur, aber auch. Ich habe deshalb meiner eigenen Fraktion mindestens so eindringlich ins Gewissen geredet wie den anderen.
Norbert Lammert: "Deutsche Demokratie ist widerstandsfähiger als so manche Demokratie in Nachbar- und Partnerländern"
Der heutige Grünen-Vorsitzende
Das ist wohl ein erstaunliches Beispiel für wechselseitigen Respekt, vielleicht auch für Wertschätzung, die sich im deutschen Parlamentarismus glücklicherweise nicht an Fraktionsgrenzen festmacht. Für mich ist der vielleicht wichtigste Unterschied zwischen der heutigen deutschen Demokratie und der früh gescheiterten Weimarer Republik: Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte ist das Bewusstsein der Verantwortung aller Demokraten für das Funktionieren einer rechtsstaatlichen Demokratie ausgeprägter als die wechselseitige Rivalität. Das lässt sich auch im Umgang mit der Serie von Krisen der letzten zehn oder 15 Jahre sehen.
Inwiefern?
Ob es in der Weltfinanzkrise war, in der Flüchtlingskrise oder jetzt angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine: Was die großen und kleineren demokratischen Parteien miteinander verbindet, ist in Krisensituationen noch ausgeprägter als das, was sie trennt. Zur Zeit der massiv gestiegenen Migration 2015 und 2016 waren ja die Auseinandersetzungen innerhalb der Parteien mindestens so kontrovers wie zwischen den Parteien. Insofern halte ich diese bundesdeutsche Demokratie für wesentlich widerstandsfähiger, als es die gescheiterte Demokratie der Weimarer Republik war. Sie ist offenbar auch widerstandsfähiger als so manche Demokratie in Nachbar- und Partnerländern mit viel älterer demokratischer Tradition.
In der Tat scheinen zum Beispiel in den USA politische Konkurrenten zu Feinden geworden zu sein. Sind wir in Deutschland gegen eine solche Polarisierung gewappnet?
Historische Errungenschaften lassen sich nicht unter Denkmalschutz stellen. Sie sind in einer Demokratie immer Gegenstand von gesellschaftlichen Veränderungen. Ein Land, in dem die Demokratie schon einmal so dramatisch gescheitert ist, sollte sich da schon gar nicht "sicher" fühlen. Es könnte allerdings sein, dass sich gerade aus dieser traumatischen Erfahrung ein anderes Grundverständnis entwickelt hat. Die rivalisierenden Parteien in Deutschland haben offenbar eine solidere gemeinsame Basis als etwa die Parteien in den Vereinigten Staaten. Obwohl die USA eine viel ältere Demokratie mit viel länger existierenden Parteien und einer großen Tradition sind, haben sie sich doch in einer hoffnungslosen, deprimierenden Polarisierung verloren.
Allerdings ist die Demokratie auch in Deutschland unter Druck. Eine Umfrage, die der Ostbeauftragte der Bundesregierung in Auftrag gegeben hat, hat vor Kurzem ergeben: In Ostdeutschland sind nur noch 39 Prozent mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden.
Mir wären andere Zahlen natürlich lieber. Dramatisch finde ich den Befund allerdings nicht, weil ich mir erklären kann, warum es nach wie vor in diesem Teil Deutschlands viel größere Empfindlichkeiten gibt als im westdeutschen Teil.
Warum denn?
Fast alle Westdeutschen haben die Nachkriegszeit als eine beinahe ununterbrochene Erfolgsgeschichte wahrgenommen. Die Erfahrungen, die die Menschen in der früheren DDR gemacht haben – einschließlich der 30 Jahre seit der Wiedervereinigung – sind viel komplizierter. Für sie war ausgerechnet der Einigungsprozess, den sie leidenschaftlicher gewollt haben als die Westdeutschen, keine ununterbrochene Erfolgsgeschichte. Er war eine dramatische Herausforderung der eigenen Lebensverhältnisse. Die allermeisten haben ihren Arbeitsplatz verloren oder ihren Beruf wechseln müssen. Dass sie da bei zusätzlichen Herausforderungen besonders empfindlich sind, finde ich sehr plausibel. Ich habe aber keinen Zweifel daran: Wenn man die Frage stellen würde, welche Verfassung die Menschen dem Grundgesetz vorziehen würden – sie würden antworten, dass ihnen keine bessere einfällt.
"Man muss Entscheidungen auch gut nach innen und außen kommunizieren"
Der Staat hat während der Corona-Pandemie und auch jetzt in der Energiekrise bisher ungekannte Summen bewegt, um die Folgen für Bürgerinnen und Bürger abzumildern. Trotzdem sind viele Menschen unzufrieden. Haben wir uns vielleicht zu sehr daran gewöhnt, dass der Staat ein Dienstleister ist, der alle Probleme löst?
Der größere Teil der Bevölkerung wäre in der aktuellen Situation überfordert, wenn er sich alleine schützen müsste. Deswegen ist diese staatliche Unterstützung nicht zu kritisieren. Trotzdem teile ich die Verblüffung über die Größenordnung. Die erstaunlichen Dimensionen der aktuellen Programme befördern auch eine Erwartung: Für die Problemlösung in Krisen ist vorrangig der Staat und erst dann der Einzelne zuständig. Das kehrt die Philosophie einer Sozialen Marktwirtschaft aber beinahe um. Denn sie geht ja davon aus, dass jeder zunächst für sich selbst verantwortlich ist, dass der Staat aber ein Mindestmaß an Verteilungsgerechtigkeit und eine soziale Absicherung sicherstellt. Das müssen aber nicht Sonderprogramme wie das Neun-Euro-Ticket im vergangenen Sommer sein.
Das hat Busse und Bahnen bundesweit sehr günstig gemacht und galt als großer Erfolg.
Ich finde es einigermaßen erstaunlich, wie selbstverständlich sich die Erwartung durchgesetzt hat, dass das Neun-Euro-Ticket fortgesetzt werden muss. Obwohl alle vorliegenden Untersuchungen zeigen, dass es eine nennenswerte Verlagerung des Individualverkehrs von privaten Pkw zum öffentlichen Personennahverkehr gar nicht gegeben hat. Es war ein willkommenes, sicher auch sympathisches Angebot. Ein ökologischer Nutzen ist damit aber nicht oder nur in einer mikroskopischen Größenordnung verbunden. Dafür ist der Aufwand aber gewaltig – zumal bis heute ungeklärt ist, wie ein 49-Euro-Ticket als Nachfolgeregelung finanziert werden kann.
Die deutschen Entlastungsmaßnahmen stoßen auch in Europa auf Kritik: Andere Staaten finden es unsolidarisch, wenn Deutschland Summen auffährt, die sie selbst zum Schutz ihrer eigenen Wirtschaft nicht schultern können. Wie gefährlich ist diese Kritik an Deutschland?
Sie ist nicht gefährlich, aber sie ist unangenehm. Und sie ist auch kontraproduktiv, weil sie die deutsche Autorität als Land mit einer natürlichen Führungsrolle in Europa gefährdet. Fast alle unsere Nachbarn erwarten, dass Deutschland eine besondere Rolle spielt. Sie erwarten aber nicht, dass wir unsere stärkeren Muskeln zugunsten des eigenen Landes spielen lassen. Sie erwarten, dass wir unsere Kraft für gemeinsame europäische Regelungen einbringen. Jetzt ist aber der Verdacht entstanden: Wenn es darauf ankommt, gilt eben doch: Germany First! Dabei ist der Hinweis der Bundesregierung nicht ganz falsch: Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl und zum Bruttosozialprodukt sind die staatlichen Programme in Deutschland nicht signifikant höher als in vergleichbaren Ländern. In der Politik kommt es aber nicht nur darauf an, Vernünftiges zu tun und Unvernünftiges zu unterlassen. Man muss Entscheidungen auch gut nach innen und außen kommunizieren, damit sie begriffen werden. Und genau das scheint im Augenblick keine besondere Stärke der deutschen Politik zu sein.
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