Bei "Anne Will" geht es um das Reizthema Steuern. Anstelle von gemeinsamen Lösungen gibt es vor allem abgenutzte Phrasen und starke Differenzen. Besonders wild wird es, als FDP-Chef Christian Lindner und SPD-Chef Norbert Walter-Borjans sich wegen der geplanten Aktiensteuer streiten.
In politischen Debatten hat das Thema Steuern in den vergangenen Jahren eher eine Nebenrolle gespielt. Dass es in Talkshows aber für aufgeheizte Diskussionen gut ist, zeigt am Sonntagabend die Runde bei "
Was war das Thema?
Irgendwas scheint da nicht zu stimmen: Der Staat schwimmt im Geld. Zumindest weist der Bundeshaushalt derzeit einen Rekord-Überschuss von 19 Milliarden Euro auf. Gleichzeitig haben nur wenige Staaten auf der Welt eine höhere Steuern- und Abgabenlast für ihre Bürger. Es sind nicht mehr nur die Geringverdiener, die angesichts befristeter Arbeitsverträge, steigender Miet- und Strompreise ins Rechnen kommen. Wäre es also Zeit für Steuersenkungen?
Wer waren die Gäste?
Norbert Walter-Borjans : Der SPD-Vorsitzende und frühere nordrhein-westfälische Finanzminister will lieber weiter investieren, statt in großem Stil Steuern zu senken. Der Staat habe die Aufgabe, für intakte Schulen, gute Krankenhäuser, bessere Bahn- und Busverbindungen zu sorgen. "Das ist das, was dringend nötig ist."Ralph Brinkhaus : Der Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gibt sich genervt vom BundesfinanzministerOlaf Scholz . Der SPD-Mann wolle an einem Tag mehr Geld ausgeben – am anderen Tag behaupte er dann wieder, er habe keinen Cent in der Tasche. "Weil das alles so durcheinander geht bei ihm, werden wir ihn morgen auffordern, mal einen richtigen Kassensturz zu machen", kündigt Brinkhaus an.Christian Lindner : 40 Milliarden Euro Rücklagen habe der Bund angespart – aber er mache keine Anstalten, die Bürger zu entlasten, kritisiert der FDP-Vorsitzende. "Es gibt auch eine Verantwortung für die Menschen, die den Laden hier bezahlen."- Anette Dowideit: Die Chefreporterin im Investigativteam der Tageszeitung "Die Welt" hat ein Buch über die Abstiegsängste der Mittelschicht geschrieben. Der Grund dafür seien neben hohen Steuern auch immer mehr befristete Arbeitsverträge – und hohe Kosten für das Wohnen in den Großstädten.
- Ulrich Schneider: Sein Vater habe ihm einst gesagt: Wenn du mal studiert, bist du ein gemachter Mann. Dieses Versprechen gelte heute nicht mehr, findet der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtverbands. "Der Blick nach vorne ist bei vielen nicht mehr da."
Was war das Rede-Duell des Abends?
An Duellen mangelt es an diesem Abend nicht. Vor allem die Politiker reißen die Diskussion an sich, Anette Dowideit als einziger weiblicher Gast kommt nur wenig zu Wort. Besonders wild durcheinander geht es, als Christian Linder und Norbert Walter-Borjans sich über die vom Bundesfinanzminister geplante Aktiensteuer streiten.
Linder kritisiert, die Steuer belaste vor allem "den kleinen Aktiensparer". Walter-Borjans erwidert, die Belastung sei extrem gering. "Das ist falsch, was Sie jetzt sagen", schimpft Linder. "Jetzt würde ich gerne mal ausreden, wir sind ja in einer Demokratie", meint Walter-Borjans. Dann geht es aber auch schon weiter zum nächsten Thema.
Was war der Moment des Abends?
CDU-Politiker Ralph Brinkhaus fordert schon zu Beginn der Sendung mehr Optimismus in der deutschen Talkshow-Landschaft: "Ich bin ein bisschen traurig darüber, dass sich vier Mal in der Woche Menschen im Fernsehen treffen und sich gegenseitig erzählen, wie schlecht dieses Land ist."
Wen er damit gemeint hat, wird am Ende deutlich. Wohlfahrtsverbandschef Ulrich Schneider kritisiert, dass immer mehr Menschen einen Nebenjob bräuchten, um über die Runden zu kommen. Dem Christdemokraten wirft Schneider vor, Probleme schönzureden – daraufhin wird Brinkhaus wütend: "Der Herr Schneider sitzt hier seit 20 Jahren im Fernsehen in Talkshows und erzählt allen Leuten, wie schlecht dieses Land ist."
Wie hat sich Anne Will geschlagen?
Die Moderatorin gibt sich an diesem Abend streng. Von Walter-Borjans will sie mehrmals wissen, warum die SPD die Abschaffung des Solidaritätszuschlags nicht durchgesetzt habe. Und Brinkhaus gibt sie praktisch persönlich die Schuld an der finanziellen Lage von Polizisten, die nur mit Nebenjobs über die Runden kommen.
"Herr Brinkhaus, warum haben Sie das zugelassen?", möchte Will wissen. Hartnäckigkeit ist für eine Moderation wichtig – an diesem Abend driftet Will stellenweise zu sehr ins Nervige ab. Vor allem dann, wenn sie ihren Gästen ständig ins Wort fällt. Das machen diese nämlich schon reichlich untereinander.
Was war das Ergebnis?
Eigentlich hat man das alles schon einmal gesehen und gehört. Die Zahlen in der Diskussion mögen neu sein, die Phrasen und Slogans sind es nicht.
Da ist der FDP-Vorsitzende, der den Parteien der Großen Koalition den mäßig witzigen und gar nicht neuen Vorschlag macht, sie könnten ja eine Paartherapie machen. Da kommt von CDU-Mann Brinkhaus die zu erwartende und reichlich abgenutzte Replik, die FDP habe ja mitregieren können, das aber nicht gemacht. Und dann bringt Christian Lindner am Ende allen Ernstes auch noch die altbekannte Forderung "mehr netto vom brutto" über die Lippen.
Wer rhetorische Rangeleien im Studio mag, kommt an diesem Abend auf seine Kosten. Wer daran interessiert ist, dass Lösungswege aufgezeigt werden oder politische Gegner aufeinander zu gehen, geht eher enttäuscht ins Bett.
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